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Abschiebung aus dem Klassenzimmer

24.04.2017 • Redaktion • Aufrufe: 800

Unfreiwilliger Crashkurs in Staatsbürgerkunde: Was eine Abschiebung tatsächlich bedeutet, das mussten Ende März die Schüler einer 8. Klasse der Wunstorfer evangelischen Gesamtschule IGS erfahren. Wie geschützt ist der Schutzraum Schule?

24.04.2017
Redaktion
Aufrufe: 800

Wie geschützt ist der Schutzraum Schule? Wie reagiert das Kollegium auf Abschiebemaßnahmen in der Schule? Wie stellt sich die Abschiebung eines Schülers für eine christliche Schule dar? Sind Abschiebungen aus dem Unterricht heraus überhaupt nötig? Wir sprachen mit der Schulleiterin der Wunstorfer IGS, Elke Rothämel, über die Abschiebemaßnahme an ihrer Schule.

Altes und neues Gebäude der IGS Wunstorf

In Zeiten massenhafter Einwanderung werden die Rufe lauter nach schnelleren Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern. Durch den Anstieg der Zahlen von Kriegsflüchtlingen ist zugleich der Druck auf die Behörden gestiegen, bislang geduldete Ausländer ohne Bleibeperspektive rascher abzuschieben, um Kapazitäten für neuankommende Flüchtlinge zu schaffen. Das scheint eine einfache Rechnung: Wo Asylbewerber aus Syrien oder anderen afrikanischen Staaten in die Unterkünfte drängen, wird der Platz enger für Immigranten, in deren Ländern kein Krieg mehr herrscht – oder die bereits in anderen EU-Mitgliedsländern oder sicheren Drittstaaten Asyl erhalten haben.

Doch so einfach ist die Sache nicht: Die Bundesländer verhalten sich sehr unterschiedlich in ihrer Abschiebepraxis. Und auch die deutsche Justiz beurteilt teilweise sehr uneinheitlich, wer bleiben darf und wer nicht. So sind Abschiebungen nach Afghanistan, wo weite Teile des Landes inzwischen wieder von den Taliban kontrolliert werden, durchaus möglich, während das Verwaltungsgericht Hannover eine Abschiebung sogar in den EU-Staat Bulgarien gerade erst verbot. Das rührt daher, dass jeder Fall ein Einzelfall ist. Pauschale Entscheidungen gibt es nicht – und wenn, dann zugunsten von Flüchtlingen, wenn aus humanitären Gründen z. B. nicht nach Griechenland abgeschoben wird.

Abschiebung vor der eigenen Haustür

Was eine Abschiebung jedoch tatsächlich bedeutet, das mussten Ende März die Schüler einer 8. Klasse der Wunstorfer evangelischen Gesamtschule IGS erfahren. Behördenmitarbeiter und bewaffnete Landespolizisten betraten die Schule, um einen abzuschiebenden Schüler mitzunehmen.

Auf der Straße hörte man dazu im Nachhinein das gesamte Spektrum der Meinungen: So etwas wäre doch kein Problem und eben notwendig, außerdem Recht und Gesetz, über Mitleid, dass es „immer die Falschen träfe“, bis hin zu Fassungslosigkeit und Verurteilung des Handelns der Staatsmacht.

Geschützter Raum Schule

Dabei stellte sich nicht nur dem überrumpelten Kollegium und den Schülern die Frage: Muss so etwas sein? Und wenn ja, muss es auf diese Weise sein? Der Schüler war in Wunstorf gut integriert, akzeptiert – und hatte nicht nur in seiner Klasse viele Freunde. Er ging bereits ein Jahr auf die IGS, nachdem er zuvor die Otto-Hahn-Schule besucht hatte, auf die sein Bruder weiterhin geht.

Der plötzlich erzwungene Abschied nahm daher nicht nur stark emotionale, sondern auch traumatische Züge an. Einen Klassenkameraden, der tagtäglich dazugehört, auf einmal von der Polizei abgeholt zu sehen, das lässt Jugendliche im Alter um die 14 Jahre zu Recht nicht unberührt. Vom einen auf den anderen Moment ist ein Klassenkamerad, ein Freund, verschwunden – und die Tragweite des Geschehens, dass man ihn zum letzten Mal gesehen hat, er nicht wieder zurückkehren wird, nicht wieder zurückkehren kann, bricht sich Bahn.

„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, um sie noch einmal mit dir zu erleben!“Ein Schüler zum abzuschiebenden Mitschüler

Besonders emotional war daher die Verabschiedung des georgischen Klassenkameraden, die auf die Schnelle erfolgen musste, nachdem die Rektorin Elke Rothämel sich dafür eingesetzt hatte, dass sie überhaupt stattfinden konnte. Die Beamten hätten den Schüler am liebsten sang- und klanglos mitgenommen.

Recht und Wirklichkeit

Derzeit steht die Schule rechtlich hintenan. Der Abschiebeerlass des Landes Niedersachsen nimmt keine Rücksicht auf die Belange des Schulbetriebes. Ist eine Abschiebung angesetzt, dann werden die Abzuschiebenden dort abgeholt, wo sie sich gerade befinden. Das kann dann eben auch die Schule sein.

Das jedoch ist aus zwei Gründen problematisch. Einerseits zieht es in hohem Maße Unbeteiligte – in diesem Fall Schüler und Lehrer – in die Ausnahmesituation mit hinein, der Unterricht und reguläre Schulbetrieb wird nachhaltig gestört. Es muss sogar die Frage gestattet sein, ob der Schulfrieden dadurch nicht gestört wird. Auf der anderen Seite ist es ein fragwürdiger Umgang mit jungen Menschen, die sich unserer Gesellschaft, unserem Staat anvertraut haben.

„Ihr seid alle meine Schwestern und Brüder.“Der Schüler, der abgeschoben werden sollte, zu seinen Klassenkameraden

Schule gilt im Ideal als besonderer Schutzraum, als ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche unbeschwert leben und lernen können sollen, unbeeinflusst von äußeren Widrigkeiten und gesellschaftlichen Problemen. Dieser Zustand kann durch eine Abschiebung, die in der Schule vollstreckt wird, derzeit massiv durchbrochen werden.

Müssen Kinder wie Verbrecher behandelt werden?

Es ist nachvollziehbar, dass die mit der Abschiebung befassten Behörden ein Interesse daran haben, dass die Betroffenen vorher nicht über den Termin ihrer erzwungenen Rückreise informiert werden. Dass sich Abzuschiebende absetzen, das kam und kommt immer wieder vor. Doch ausgehend von diesen Erfahrungswerten gleich einen Generalverdacht zu konstruieren, die Betroffenen von vornherein als unkooperativ einzustufen, selbst dann, wenn sie ihrer Ausreisepflicht bisher freiwillig nicht nachgekommen sind – wofür es die unterschiedlichsten Gründe geben kann – das ist gerade denen gegenüber unfair, die am wenigsten für die Situation können: die Kinder der Ausreisepflichtigen.

Im vorliegenden Fall scheinen die Eltern, die schlecht Deutsch sprechen, einen Fehler gemacht zu haben, indem sie die drohende Ausreiseaufforderung nicht verstanden bzw. dieser nicht rechtzeitig entgegenwirkten. Kinder sind dann mitgehangen, mitgefangen – ohne dass sie sich etwas zu Schulden kommen lassen hätten.

Muss sich die Staatsgewalt daher hier verhalten, als würde der Abzuschiebende in jedem Moment aus dem Fenster springen und davonlaufen? Müssen Polizeibeamte voll bewaffnet in der Schule erscheinen, um einen 14-Jährigen zum Flughafen zu bringen? Müssen Abzuschiebender, Mitschüler und Lehrer wie aus dem Nichts vor vollendete Tatsachen gestellt werden? Oder ließe sich das nicht auch anders organisieren?

„Das werden Sie in Zukunft öfter erleben“Ein bei der Maßnahme anwesender Beamter zur Rektorin

Beamte, die immer wieder mit Abschiebungen befasst sind, müssen eine professionelle Distanz entwickeln. Das wirkt auf Dritte dann schnell wie eine gewisse Abgeklärtheit oder gar Gefühlskälte. Doch zynisch wirkende Kommentare und ein unsensibler Umgang auch mit mittelbar Betroffenen rechtfertigt das kaum. Es ist vielmehr geeignet, Beobachtern ein Menschenbild zu vermitteln, das kein positives ist.

Welches Signal sendet es an die Schüler?

In der IGS-Außenstelle am Luther Weg wurde der Schüler abgeholt

In der IGS-Außenstelle am Luther Weg wurde der Schüler abgeholt | Foto: Mirko Baschetti

Gerade für eine konfessionelle Schule, deren Werte auch darin bestehen, Schutzsuchenden Obdach zu gewähren, ist es fatal, solche Vorgänge dulden zu müssen. Es durchbricht zumindest für einen Moment den Schulfrieden, mit Folgen, die langfristig nicht absehbar sind. Während das Kirchenasyl, obwohl kein tatsächliches Recht, von Vollzugsbehörden meist beachtet wird, wird im Falle von christlichen Schulen offenbar wenig Rücksicht auf Befindlichkeiten genommen.

Es war das erste Mal, dass die IGS eine versuchte Abschiebung erlebte. Das hatte es so bis dahin noch nicht gegeben. Dabei verfügt die IGS über eine Sprachlernklasse, so dass einige der in Wunstorf lebenden minderjährigen Ausländer die Schule besuchen. Auch die sogenannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland geflüchteten Jugendlichen, für die es in Wunstorf ein extra Wohnheim gibt, besuchen mehrheitlich die IGS.

Das sagt die Schulleiterin

Schulleiterin Rothämel ist sich sicher, dass das an den Tag gelegte Vorgehen der Behörden das falsche ist. Nicht nur das, die Rektorin der IGS war geradezu schockiert von den Geschehnissen, ebenso wie viele der Mitschüler und Eltern der Kinder aus der Klassengemeinschaft.

„Ich glaube, dass es menschlich zugehen muss“Elke Rothämel, Rektorin der IGS

Vermeiden lassen sich derartige Vorfälle nicht, das ist natürlich auch Rothämel bewusst. Dass es dabei in Zukunft jedoch menschlicher zugeht, das ist ihr ein persönliches Anliegen. Ihre Aufgabe sei es auch, zu verhindern, dass so etwas in dieser Weise noch einmal geschähe.

Das Tragische wäre dabei vor allem der bleibende Eindruck, den ein Schüler auf diese Weise mit in seine Heimat nähme, sagte Rothämel im Interview mit der Wunstorfer Auepost. Das Letzte, was er aus Deutschland mitnähme, wäre die Erinnerung an ein ruppiges, grobes Herausgerissenwerden aus seinem Freundeskreis.

Energischer Widerstand

Die Schulleiterin der IGS sprach dabei auch in Anlehnung an ein berühmtes Zitat der Bundeskanzlerin, dass ein Land, in dem so gegen minderjährige abgelehnte Asylbewerber vorgegangen würde, nicht ihr Land sei.

„… dann ist das nicht mehr mein Land.“Elke Rothämel, Rektorin der IGS

Es liefe etwas falsch, wenn die Schüler mit vollem Einsatz in die Gesellschaft integriert würden, um dann am Ende unter derartigen Umständen abgeschoben zu werden. Unabhängig davon empfand es die Rektorin als unangebracht, dass uniformierte und voll ausgerüstete Polizeibeamte unangekündigt die Schule betraten.

Auf die Frage, wie sie sich den Ablauf gewünscht hätte, wenn eine Abschiebung aus der Schule heraus nicht zu vermeiden ist, antwortet Rothämel eindeutig: Es sollte eine Chance für einen geordneten Abschied geben, kein überfallartiges Herausreißen eines Schülers aus der Klassengemeinschaft. Das Wichtigste sei dabei immer, dass es menschlich zuginge.

Für die Zukunft

Wenn das Erlebte bereits die Erwachsenen stark mitnimmt, dann muss man sich nicht ausmalen, wie es den Mitschülern und dem Schüler selbst ergangen sein muss. Recht bleibt Recht, aber die Frage ist, wie die Anwendung der Gesetze zu geschehen hat. Dies liegt in der Verantwortung der Landesregierung. Solange es von dort keine genaueren Richtlinien oder eine geänderte Abschiebeauffassung gibt, ist es an den ausführenden Beamten, wie sie ihr Ermessen ausüben, um derartige Notwendigkeiten für alle menschlich zu gestalten. Das Wie haben die Behörden in der Hand – und alle anderen, die sich für Veränderungen starkmachen. Dass so etwas in dieser Form nicht mehr passiert, dafür wird auch die Schulleiterin der IGS weiter kämpfen.

„Ich muss dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert.“Elke Rothämel, Schulleitern

Unfassbar erscheint das alles geradezu dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung letztendlich gar nicht stattfand. Das Kollegium und die Klassenstufe wurden in den Ausnahmezustand versetzt – am Ende für nichts. Die Abschiebung wurde gestoppt, die Familie kann vorerst weiter in Wunstorf bleiben. Der georgische Schüler besuchte nach einem Tag Pause wieder ganz normal den Unterricht. Nun jedoch schwingt auch noch die Angst mit, dass es jederzeit wieder geschehen könnte – wie auch an jeder anderen Schule in Wunstorf.

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