Wunstorf (as). Ballett ist nichts für jedermann. Es begeistert, polarisiert und löst Debatten aus: über Bild und Rolle der Frau, falsche Ideale, Essstörungen, Verzicht und kurzen Ruhm, über Disziplin und Drill. Abseits all dessen hat die Ballettlehrerin im 33. Jahr ihrer Arbeit als Leiterin der von ihrer Mutter gegründeten Schule über viele Monate eine Choreographie entwickelt, die höchsten Ansprüchen genügt und beste Unterhaltung bietet.
Wer Ballett mag und Tschaikowsky, weiß gar nicht, wo er mit dem Lob beginnen soll. Die Melodien des russischen Komponisten untermalen die Geschichte auf ideale Weise, auch wenn sie hier aus der Konserve kommen. Die gute Akustik des renovierten Stadttheaters und das Team der Ballettschule bringen sie perfekt zur Geltung. Die Kulissen von der Hand des Luther Malers Burghardt Seibt stammen aus dem reichhaltigen Fundus der Schule. Sie sind naturalistisch, ohne manieriert zu sein.
„Die Kerze muss weg!“
Bei der Generalprobe muss die Prinzipalin einmal energisch eingreifen, weil es mit dem Wechsel nicht klappt. Es ist kein Schieber zur Hand, und die neue Leinwand ist nicht hervorgezogen. Die Nebensächlichkeit ist schnell vergessen. „Die Kerze muss weg!“, ruft sie aus dem dunklen Zuschauerraum. „Die Kerze muss weg!“ Es geht ihr nicht schnell genug. Das Ensemble folgt ihr willig, und ein hilfreicher Arm erscheint unter dem Seitenvorhang: Die Kerze verschwindet im Dunkel, und die Bühne ist frei für einen Pas de deux.
Dieser Tanz und der Grand Pas de Deux gehören zu den Höhepunkten jeder Inszenierung. Auch dieser. Denis Veginy, Ballettmeister und seit vielen Jahren Erster Solist der Dresdner Semperoper, ist eine Klasse für sich. Den sprungstarken Tänzer aus Perm in Russland in Wunstorf zu sehen, lohnt allein den Besuch. In Dresden ist er seit langem einer der umjubelten Akteure einer herausragenden Kompanie. Den Prinzen aus dem „Nussknacker“ hat er lange im Repertoire. Dass er an den Aufführungen in Wunstorf mitwirkt, wertet Sylvia Hirsch als „Sensation“.
Im Stadttheater gehört er neben ihr und Pantelis Zikas zu den Profis. Zikas war Solist im Ballett des hannoverschen Staatstheaters und arbeitet nach einem Pädagogikstudium als Balletttrainer in Hannover. Das Wunstorfer Publikum erlebt ihn als Onkel Drosselmeyer und als Mäusekönig. Der Onkel ist eine zentrale Figur: Er kommt am Heiligen Abend in die Familie Stahlbaum und hat als Geschenk für die kleine Klara und ihre Schwester den Nussknacker dabei.
Um das bunte Werkzeug herum entwickelt sich eine Geschichte zwischen Tag und Traum, die ursprünglich von E. T. A. Hoffmann verfasst und von Alexandre Dumas adaptiert wurde. Das Märchen-Ballett mit der Musik von Tschaikowsky ist heute eines der beliebtesten klassischen Ballette überhaupt. Die Choreografie, an die sich auch die Ballettschule Hirsch stark anlehnt, stammt von den Tänzern Marius Petipa und Lew Iwanow. Das Werk wurde 1892 uraufgeführt.
Veginy und Zikas mögen die Stars sein, im Mittelpunkt stehen jedoch die 45 jungen Tänzerinnen und Tänzer. Hirsch unterrichtet die 7- bis 19-Jährigen teils seit Jahren. „Sie sind recht professionell, darf ich sagen“, lobt die Ballettlehrerin ihr Ensemble. Aber es sei nicht leicht, immer die Motivation zu bewahren. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer bei der Stange zu halten und sie dazu zu bringen, weitgehend auf Freizeit, Sonntage und Ferien zu verzichten, um das hohe Niveau zu erreichen – das sei eine große Aufgabe. Die Schulleiterin meistert die Aufgabe offensichtlich mit Bravour.
Für Hirsch ist es „der 3. oder 4. Nussknacker“, den sie mit ihrer Schule präsentiert. Aber: „Ich wiederhole mich nicht.“ Neue Schüler bedeuteten immer wieder neue Herausforderungen. Sie bewältigt die Ausbildung und die Regie in einer ständigen Gratwanderung zwischen freundlicher Aufmunterung und harscher Korrektur. Bis in die Generalprobe hinein: „Seht nicht ins Publikum. Guckt nicht, wer da sitzt. Konzentriert euch auf eure Rolle!“, gibt sie den Mädchen und Jungen mit auf den Weg. „Und Strahlen! Immer Strahlen!“
Wer ist Sylvia Hirsch? Sylvia Hirsch erhielt ihre Ballettausbildung an der Musikhochschule in Hannover. Schon vom 11. Lebensjahr trainierte sie mehrmals wöchentlich in der dortigen Tanzabteilung und wirkte schon als Kind in Aufführungen des Opernhauses Hannover mit. Nach dem Studium des Bühnentanzes an der Musikhochschule, wo ihr wegen ihrer Vorbildung und intensiven Studien in den Sommermonaten in Cannes und Monte Carlo ein Ausbildungsjahr erlassen wurde, ging sie ans Staatstheater Hannover als staatlich geprüfte Diplom-Bühnentänzerin in ihr erstes Engagement. Nach 4 Jahren schaffte sie den Sprung an die Deutsche Oper Berlin. Dort tanzte sie in großen Ballettklassikern mit, wie Schwanensee, Nussknacker, Giselle, aber auch in modernen und neoklassischen Choreographien wie Gala Performance von Antony Tudor, Serenade von Balanchine und Iberica von Oscar Araiz. Nach einer Fußverletzung war sie gezwungen, ihre Bühnenlaufbahn zu beenden. Sie ging an die Musikhochschule Hannover zurück und absolvierte das zweijährige Studium der Bühnentanzpädagogik. 1988 erhielt sie das Diplom zur staatlich geprüften Bühnentanzpädagogin. Dieses Diplom berechtigt sie, Kinder bis zur Bühnenreife auszubilden.
Dass das wirkt, zeigen die Eleven in jedem Akt: Die Zinnsoldaten, die Chinesen, die Blumenmädchen oder die akrobatischen Pulcinellen und nicht zuletzt die kleinen Mäuse sind mit viel offensichtlicher Freude bei der Sache. Die 12 Kinder in den grauen Kostümen agieren mit solcher Präzision und Hingabe nach den Anweisungen ihres Königs, dass es auch hartgesottene Zuschauer rühren kann. Apropos Kostüme: Sylvia Hirschs Mutter Margot, die Gründerin der Schule, hat sie vor Jahren entworfen. Ohne Ausnahme passt jedes Stück perfekt, und auch das ist hohe Professionalität. Gleiches gilt für die Frisuren. Nicht eine Strähne schaut hervor.
Drei junge Tänzerinnen ragen heraus: Die gerade 19-jährige Evelyne Litt gibt die Klara als junge Frau. Sie ist Veginys Partnerin in den Pas de deux. Die Wunstorferin wird seit 13 Jahren von Hirsch ausgebildet und tanzt zum ersten Mal die „Schritte zu zweit“: souverän und fehlerfrei. Auch Carla Benjestorf als kleine Klara zieht die Blicke auf sich, wenn sie vom Onkel den Nussknacker annimmt. Nicht zuletzt ist Leonie Hohenhaus zu nennen. Sie ist die Schneekönigin im ersten Akt, die Blumenkönigin im zweiten. Bravourös!
Nach der Generalprobe Lob aus berufenem Mund: „Die sind alle so gut! Wie bei einer professionellen Kompanie! Toll!“, sagt Pantelis Zikas beim Weg in die Garderobe. Toll auch die Leistung der Prinzipalin, die unermüdlich anspornt, korrigiert und lobt. Sie hat mit den 45 Eleven eine herausragende Aufführung erarbeitet. Chapeau!
„Der Nussknacker“ steht im Stadttheater nach der Premiere noch am Sonnabend, den 25. November, von 19 Uhr an auf dem Programm, außerdem am Sonntag, 26. November, von 16 Uhr an. Wenige Restkarten gibt es noch für den Sonnabend-Termin.
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