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Nachts sind alle Katzen grau. Oder hungrig.

21.08.2020 • Mirko Baschetti • Aufrufe: 902

Wenn Karin Kirstein, wie sie sich es manchmal wünscht, angefangen hätte zu schreiben, bräuchte sie bloß ihre Lebensgeschichte als Vorlage für ein spannendes Buch nehmen. Doch sie füttert nachts lieber Katzen.

21.08.2020
Mirko Baschetti
Aufrufe: 902

Wenn Karin Kirstein, wie sie sich es manchmal wünscht, angefangen hätte zu schreiben, bräuchte sie bloß ihre Lebensgeschichte als Vorlage für ein spannendes Buch nehmen.

Karin Kirstein

Karin Kirstein fährt nachts ihre Tour, um streunende Katzen zu füttern | Foto: Mirko Baschetti

Genug erlebt hat sie. Von der Lehre beim Dorffriseur, die mehr aus Waschen und Fegen als aus Waschen, Schneiden und Legen bestand, bei dem auch schon einmal eine Kundin zur jährlichen Haarpflege zu Weihnachten vorbeikam. Oder von ihrer Zeit als Pendlerin nach Hannover. Über ihre Zeit als Filialleiterin bei Schlecker, in der sie das obligatorische Bild des Firmenchefs nicht im engen Büro, sondern über der Toilettentür aufgehängt hatte, bis hin zu ihrer „Anschlussverwendung“ nach der Schlecker-Insolvenz 2012 als Mädchen für alles bei einem befreundeten Journalisten.

Sie könnte auch über ihre nur ein halbes Jahr währende Ehe schreiben, in der sie, von Schulden ihres Mannes überrascht, ihr Familiensilber dem Gerichtsvollzieher überlassen musste. Oder über ihre spätere Beziehung, in der ihr Partner ihr so manches Mal hinterhertelefonierte, wenn sie nach Feierabend Bekannten noch die Haare schnitt. Vielleicht könnte sie auch einen Ratgeber für gestresste Mitmenschen verfassen, da sie selbst, um sich den Kopf freizuhalten, ohne Smartphone und Computer auskommt. Man muss sie eben anrufen oder gleich besuchen, wenn man mit ihr sprechen möchte.

Ein Detail aus dem Leben der 69-Jährigen jedoch ist so ungewöhnlich, dass es im Zweifel auch als Beginn eines Psychothrillers herhalten könnte. Wenn jemand in jeder Nacht um kurz nach eins aufsteht, sich auf das Fahrrad setzt und praktisch täglich die gleiche Strecke abfährt, könnte das durchaus auch die Liebhaber von Krimis oder Gruselgeschichten aufhorchen lassen.

Pfandflaschen sammeln – für die Katzen

Für Karin hingegen ist es seit 2014 eine selbst auferlegte Verpflichtung. Seit sie begonnen hat, sich um streunende Katzen zu kümmern, hat sie in all den Jahren keine nächtliche Runde versäumt. Und bei der Versorgung der Katzen allein bleibt es nicht. Denn die Rentnerin sagt zwar von sich, sie selbst komme finanziell zurecht, zur Finanzierung des notwendigen Katzenfutters ist sie dennoch auf zusätzliche Mittel angewiesen. Und die findet sie nachts zwischen zwei und vier Uhr dort, wo sie auch ihre Schützlinge versorgt.

Gut vorbereitet mit Handschuhen, Taschenlampe und einem Anhänger begibt sie sich allnächtens auf ihre Runde und sammelt die an Wegrändern und an Papierkörben abgestellten Pfandflaschen und -dosen ein, bevor am Morgen die städtische Reinigung die Überbleibsel durstiger Menschen vom Vorabend entsorgt. Manchmal zehn Euro, in guten Zeiten, besonders während der Urlaubssaison, deutlich mehr, kommen auf den Touren zusammen, die sie an die Futterplätze ihrer Schützlinge angepasst hat.

Mehr als 7.000 Euro sind so in den Jahren in das Tierwohl investiert worden. Vor nächtlichen Begegnungen hat Karin dabei keine Angst. Pöbler nimmt sie oft schon von weitem wahr und weicht ihnen aus, während der Feste in Steinhude hat sie auch schon mal ein Betrunkener ein Stück weit begleitet und sich mit ihr unterhalten.

Eine zu starke Bindung will sie zu den Streunern nicht aufbauen. Mit Ausnahme von einem, Scooper, der sie in ihrem Zuhause besucht, hat sie den Katzen keine Namen gegeben. Und auch gestreichelt hat sie noch nicht alle. Karin kennt zwar die ungefähren Aufenthaltsorte, sieht aber nicht in jeder Nacht ihre Futterempfänger.

Die Polizei immer auf den Fersen

Als sie während des Schützenfestes in einer Nacht ohne Licht unterwegs war, wurde Karin auch schon von der Polizei kontrolliert. 0,0 Promille war das Ergebnis, und nach einer Ermahnung, das Licht am Fahrrad einzuschalten, konnte sie ihre Runde fortsetzen. Ein anderes Mal jedoch stellte sie fest, dass ihr ein dunkles Fahrzeug folgte. Als Karin schließlich anhielt und in das Fahrzeug leuchtete, handelte es sich aber auch hier um Polizisten. Seitdem, so ist sie sich sicher, ist ihre Runde auch bei der Polizei bekannt.

Nach ihrer Tour von rund zwei Stunden gönnt die Tierliebhaberin sich dann noch einmal etwas Schlaf, bevor ihr normaler Tag startet, die Pfandflaschen in Katzenfutter umgetauscht und die Ausrüstungsgegenstände für die nächste Nacht vorbereitet werden. In ihrer Wohnung selbst lebt noch Kater Q, der laut Karin, ähnlich wie die namensgebende Figur aus dem Star-Trek-Universum, verschwindet und auftaucht, wie es ihm passt.

Zusammen mit dem Streuner Scooper, der hauptsächlich zum Fressen vorbeikommt, ist er aber auch die einzige Katze in der Wohnung. Das dürfte Karin auch von den Menschen unterscheiden, die aus falsch verstandener Tierliebe oft eine Vielzahl von Katzen unter nicht artgerechten Bedingungen halten. Sie sagt von sich auch, dass sie keine neue Katze mehr aufnehmen möchte, damit diese nicht in Gefahr gerät, einmal im Tierheim zu landen, falls sie sie überleben sollte.

Zuhause zeigt sich dann auch schon mal die Dankbarkeit von Q, und Karin teilt letztlich das Schicksal vieler anderer Katzenbesitzer: Eine gefangene Maus am Bett.

Dieser Bericht erschien zuerst in Auepost 04/2020

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