Wunstorfer Auepost
[Anzeige]

Lokale Originale: Die „Stipsfabrik“ der Reinholds

14.11.2016 • Daniel Schneider • Aufrufe: 6871

Seit knapp 80 Jahren wird in Wunstorf von der Familie Reinhold Rübensaft produziert – ein Lebensmittel, das einst auf den Frühstückstisch gehörte wie heute Toast und Marmelade, gerade in der hiesigen Region jedoch noch weit davon entfernt ist, ein reines Liebhaberprodukt zu sein. Über Rübensirup, seine Geschichte und seine Fans.

14.11.2016
Daniel Schneider
Aufrufe: 6871

Was Rübensaft überhaupt ist und wofür man es braucht, warum es das eigentlich jahrelang haltbare Produkt nicht ganzjährig gibt, warum an Schließungsgerüchten nichts dran ist und wie aus einer gewöhnlichen Zuckerrübe am Ende Sirup entsteht: Eine Reportage über den vielleicht traditionellsten Wunstorfer Industriebetrieb.

Der Seniorchef bei der Arbeit | Foto: Mirko Baschetti

Der Seniorchef bei der Arbeit | Foto: Mirko Baschetti

Ein süßlicher Geruch umweht das weiße Gebäude gegenüber des Obi-Baumarkts, direkt neben „Ullis Pflegeteam“ an der westlichen Kreuzung der Hagenburger Straße. Es ist der typische Geruch der Zuckerraffinerie, den man sonst nur – viel intensiver – aus Orten mit großindustrieller Zuckerproduktion kennt, wo diese in den Herbsttagen, wenn die Zuckerrübe geerntet wird, mitunter ganze Städtchen einnebelt. Doch hier stehen keine großen Silos und Industrieanlagen, hier werden nicht im Minutentakt Zuckerrüben auf LKW-Anhängern angeliefert. Dennoch herrscht emsiges Treiben, sowohl im Gebäude als auch davor, wo Leute mit leeren Blecheimern das Haus betreten und es mit gefüllten wieder verlassen: Es ist der Standort der Zuckerrübensirupfabrik der Familie Reinhold, die Heimat von „Reinhold’s Rübensaft“.

Die kleine Fabrik steht seit knapp 80 Jahren an ihrem jetzigen Platz, nachdem erste Schritte der Rübensaftproduktion noch zwei Jahre eher gegenüber des Baggersees unternommen wurden – und die heute umliegenden Gebäude gehörten damals auch noch dazu. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es hier nichts als Feld – das hat sich inzwischen geändert. Heute verläuft hier eine Hauptverkehrsader Wunstorfs.

Die unmittelbaren Nachbarn beschweren sich dennoch weder über Geruchs- noch Lärmbelästigung – und selbst wenn es laut oder olfaktorisch bedenklich würde, gäbe es keine Beschwerden, denn in der Nachbarschaft wohnt nur die eigene Familie des Familienbetriebs. Wohnen und arbeiten am selben Ort, ohne dabei Heimarbeit mit dem Laptop auf dem Küchentisch zu meinen, auch das gibt es noch im 21. Jahrhundert.

Der Sirup

Die Zutatenliste besteht aus einem einzigen Punkt: Zucker. „Rübensaft“ als Name ist jedoch im Grunde irreführend, denn der Rübensaft ist zwar ein Zwischenschritt in der Produktion, verkauft wird am Ende aber Zuckerrübensirup – das Konzentrat des Rübensaftes. Doch jeder Wunstorfer weiß, was er unter diesem Namen erhält, es ist die in Niedersachsen gebräuchliche Bezeichnung. Dieser Name entstand, als der Sirup in früheren Zeiten noch stärker gestreckt wurde – und auch „Reinhold’s Rübensaft“ um den 2. Weltkrieg herum tatsächlich eine eher flüssige Konsistenz hatte. Das Eindicken ist energieaufwändig, und daran wurde in Zeiten der Not gespart.

Aus diesen alten Zeiten rührt auch seine inoffizielle Bezeichnung, die den Wunstorfern fast noch geläufiger ist als die aufgedruckte Markenbezeichnung: Stips. Denn der Sirup war so flüssig, dass man sein Brot direkt „hineinstippen“ konnte, statt ihn aufs Brot zu streichen. Als Stips oder Rübensaft ist er vor allem in der hiesigen Region bekannt, in anderen Landstrichen existieren andere Bezeichnungen. Auf Plattdeutsch heißt er ebenfalls Zaft, die Rheinländer z. B. jedoch sprechen von Rübenkraut (was noch irreführender ist, da das Blattwerk der Zuckerrübe ja gerade keine Verwendung findet).

Der Ausgangsstoff und einzige Zutat: Zuckerrrüben | Foto: Mirko Baschetti

Der Ausgangsstoff und einzige Zutat: Zuckerrrüben | Foto: Mirko Baschetti

Der Verwendungszweck hat sich seit damals kaum verändert. Als Marmeladenalternative beim Frühstück oder am Kaffeetisch, zu Pfannkuchen oder Kartoffelpuffern – oder als Zutat beim Honigkuchen- oder Brotbacken, denn der dunkle Sirup fungiert auch als Farbstoff und macht das Brot schön dunkel. So ist auch manche Bäckerei in der Gegend Großabnehmer des Reinhold’schen Rübensirups. Generell ist er auch zum Süßen geeignet, der Zuckergehalt liegt etwa 10 Prozent über dem von Marmelade. Hauptsächlich wird er von den Käufern jedoch weiterhin als Brotaufstrich verwendet. Rübensaft wird in zwei Varianten verkauft, hell und dunkel, doch nur der dunkle wird selbst vor Ort produziert, der helle lediglich unter dem Label der Reinholds vertrieben.

Rundgang durch die Fabrik

Weißer Dampf steigt an einer Ecke des Hauses empor. Hinter den weißen Fassaden verbirgt sich die Wunstorfer „Stipsfabrik“, in der seit knapp 80 Jahren Zuckerrübensirup hergestellt und verkauft wird. Ein gewachsenes Haus, immer mal wieder um einen Anbau erweitert, dem man nur von innen die Jahrzehnte ansieht: schiefe Böden, niedrige Türen, gusseiserne Maschinenteile, im Boden eingelassene Schienen zum Bewegen der großen Gerätschaften.

Vom Verkaufsraum führt eine kleine Tür fast direkt in die Produktionsstraße. In fünf Stationen wird hier aus einer Zuckerrübe am Ende ein Gläschen Sirup. Es beginnt an der Rückseite des Gebäudes, wo die Zuckerrüben angeliefert werden. Die Zuckerrüben kommen praktisch schon verarbeitungsfertig auf dem Gelände an. Die Rüben dürfen keine Blätter mehr haben, denn das würde später einen bitteren Geschmack ergeben.

Die angelieferten Zuckerrüben werden über die Anlieferungsrampe ins Gebäude geschaufelt. Dort werden die Rüben gereinigt, bevor sie zunächst gekocht, zerkleinert und gepresst werden. Die Produktionsstraße bzw. das Interieur zur Zuckerrübenverarbeitung ist zum überwiegenden Teil selbstgebaut bzw. -entwickelt. Wüsste man nicht, dass hier Zuckerrüben verarbeitet werden, man käme angesichts der vielen Einbauten und labyrinthartig miteinander verbundenen Geräte wohl auch nicht darauf. Doch spätestens der Geruch in der Luft verrät es.

In früheren Zeiten wurde in kohlebefeuerten Kesseln gekocht; einer der alten Kessel steht bis heute. Vor etwa 40 Jahren übernahm man dann die moderneren Anlagen eines Betriebs aus Bantorf, einem ehemaligen Konkurrenten, der die Produktion einstellte. Der Dampf zum Zuckerrübenkochen wird seitdem mit Öl erzeugt, doch auch diese Anlagen wirken inzwischen auf den Betrachter historisch. Diese Dampfanlage, bestehend im Grunde aus einer Art dampfbetriebener Schnellkochtöpfe, ist die erste heiße Station für die Zuckerrübe.

Wurde bis zu dieser Umstellung das Kochen praktisch in einem einzigen Kessel durchgeführt, wurde die Produktion im Laufe der Zeit in verschiedene Schritte unterteilt – nicht nur, um Zeit und Personal zu sparen, sondern auch, um besseren Einfluss auf das Endprodukt nehmen und gleichbleibende Qualität erreichen zu können. Denn viele „Stellschrauben“ im Zuckerrübenkochprozess gibt es eigentlich nicht. Die Qualität und der Geschmack des Rübensafts hängen maßgeblich von der angelieferten Zuckerrübe ab. Das Geheimnis der Zubereitung liegt ansonsten im späteren Kochvorgang – der von den Reinholds mit Erfahrung gesteuert wird.

In den 30er, 40er Jahren war die Produktion noch eine ganz andere: sieben- bis achtmal wurden die Rüben hin- und hergeschaufelt, bis sie letztlich zu Rübensaft wurden. Die Produktionsschritte laufen inzwischen viel flüssiger ab. Über ein Dutzend Arbeiter waren bei der Stips-Produktion eingespannt, heute genügen zwei Leute, um den Fertigungsprozess in Gang zu halten – es werden aber auch weniger Zuckerrüben verarbeitet als damals.

Zwischenstation Zuckerrübensaft

Nach etwa sechs Stunden gelangen die nun gekochten Rüben aus dem Dampfkessel in eine Mühle, aus der sie wiederum in die Rübenpresse geleitet werden. In diesem Stadium sieht der Rübenbrei etwa aus wie etwas dunklerer Kartoffelbrei. Ein großer Hydraulikzylinder presst den zermahlenen, gekochten Brei mit einem immensen Druck durch mehrere Lagen von Stofftüchern.

Aus dieser Rübenpresse tröpfelt dann schließlich das Rohprodukt heraus: reinster Zuckerrübensaft, der in diesem Zustand jedoch noch viel zu flüssig und süß ist. Der sich dabei bildende Schaum drumherum schmeckt fast wie Zuckerwatte. Über Rohrleitungen im Boden wird das Zwischenprodukt in einen anderen Bereich des Gebäudes gepumpt: In großen Becken wird der Ausgangsstoff hier in einem filigranen Prozess verkocht: aus flüssigem Zuckerrübensaft wird Zuckerrübensirup – Reinhold’s Rübensaft.

Es herrschen insbesondere im Bereich der Kochtröge hohe Temperaturen und eine ebenso hohe Luftfeuchtigkeit. Wenn die Zuckerrüben richtig am Kochen sind, ist der Seniorchef, der auch an diesem Tag den Fertigungsprozess überwacht, nur noch schemenhaft in einer großen, weißen Dunstwolke zu erkennen. Die Sicht sinkt irgendwann gegen null.

Rübensaftherstellung als Kunst

Während des Kochens bzw. Eindickens, das zur Streichfähigkeit des Rübensaftes führt und ihn zum Sirup macht, muss permanent darauf geachtet werden, dass nichts überkocht oder anbrennt, die Füllstände müssen akribisch im Auge behalten werden. Die andauernde Prüfung der richtigen Konsistenz – noch während des Kochens – ist eine Kunst. Das übernimmt in der Regel der Seniorchef, Albert Reinhold jun., Sohn des Firmengründers Albert Reinhold sen. und Vater von Jürgen Reinhold, der den Familienbetrieb inzwischen leitet. Denn diese Kunst erfordert Erfahrung – und von der hat der Seniorchef die meiste. Glücklicherweise muss er dafür nicht permanent in der Hitze des heißen Dampfes stehen.

Rübensaft kurz vor der Abfüllung | Foto: Mirko Baschetti

Rübensaft kurz vor der Abfüllung | Foto: Mirko Baschetti

Nach etwa drei Stunden dieses weiteren Kochvorgangs ist der Rübensaft nun nahe am verkaufsfähigen Zustand. In einem letzten Schritt wird er noch einmal umgepumpt, um ihn herunterzukühlen – und dann ist er bereit für die Abgabe. Der Saft wird für die Kunden direkt im Verkaufsraum abgefüllt. Kochfrisch läuft der Sirup aus der Wand und landet noch warm in den von vielen Kunden selbst mitgebrachten Gefäßen oder früher erworbenen Eimern, die einfach weiterbenutzt werden.

Gelebter Umweltschutz

Während woanders aktuell diskutiert wird, wie man die vielen Pappbecher beim Kaffeeverkauf am besten vermeidet, wird der Umweltschutz beim Naturprodukt Zuckerrübe bereits großgeschrieben. Es gibt den Rübensaft fertig abgefüllt in verschieden großen, wiederverwendbaren Eimern und Gläsern zu kaufen – oder man lässt sich einfach etwas in den bereits vorhandenen, mitgebrachten alten Eimer oder ein anderes Gefäß seiner Wahl abfüllen. Bereits 100 Gramm (Verkaufspreis: 30 Cent) oder noch weniger kann man sich so mitnehmen. Die Verkaufsmenge wird exakt abgewogen, unter dem Sirup-Auslass stehen entsprechende Waagen. Nach oben hin gibt es keine Grenze, die meisten Kunden begnügen sich jedoch mit einem oder zwei Eimern – und lassen so in der Regel um die 10 bis 20 Euro im Fabrikladen.

Alles, was nach dem Pressvorgang von einer Zuckerrübe übrig bleibt, ist ein dünner Lappen. | Foto: Mirko Baschetti

Alles, was nach dem Pressvorgang von einer Zuckerrübe übrig bleibt, ist ein dünner Lappen. | Foto: Mirko Baschetti

Produktionsabfall fällt in der Rübensaftfabrik übrigens auch nicht an: Von der zerkochten und gepressten Zuckerrübe bleibt lediglich ein kleiner, faseriger Lappen übrig. Die Rückstände des Pressverfahrens, die wie alte Putzlappen wirken, werden gesammelt und dienen dann als Tierfutter: Bauern holen sich die Rübenreste für ihre Schweine und Rinder ab.

Rübensaft-Zeit

Was der Kunde später in der Regel gar nicht bemerkt, fällt den Reinholds, die im Rahmen der Qualitätssicherung ständig probieren müssen, sofort auf: denn der Rübensaft schmeckt durchaus unterschiedlich: je nach verwendeter Zuckerrübe variiert die geschmackliche Note. Über den Erfolg des Endprodukts entscheidet daher schon die Ernte auf dem Feld:

Die Rüben müssen nach bestimmten Vorgaben angebaut, geerntet und beschnitten werden, um überhaupt für die Reinhold’sche Weiterverarbeitung in Frage zu kommen. Sie müssen frisch sein, in geeignetem Boden angebaut werden – und es kommen nur spezielle Sorten in Frage. Früher waren es einmal diverse Landwirte, die die Zuckerrüben lieferten, inzwischen sind es nur noch zwei: in Reinhold’s Rübensaft landen Rüben aus Luthe und Idensen.

Die Saison dauert acht bis neun Wochen und beginnt Ende September. Bis Ende November wird dann produziert, der Dezember möglichst vermieden. Die eigentliche Rübensaftproduktion konzentriert sich somit auf die Herbstzeit. Sechzehn Stunden Arbeit pro Tag – inklusive der Wochenenden – sind dabei keine Seltenheit.

„An der grenze der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit“Jürgen Reinhold

Im Grunde arbeiten die Reinholds hier mit dem Marketinginstrument der künstlichen Verknappung – denn theoretisch könnte man auch das ganze Jahr über Rübensaft herstellen; große Zuckerfabriken arbeiten deutlich länger. Doch die Herstellung von Rübensaft als Saisonprodukt in einer bestimmten Jahreszeit hat zwei Gründe: einen ökonomischen und einen biologischen.

Traditionelle Technik setzt Grenzen

Einerseits sollen die reifen Zuckerrüben frisch verarbeitet werden, denn das sorgt am Ende für einen besseren Geschmack. Somit ist die Produktionszeit eng an die Zuckerrübenernte im Herbst gekoppelt. Der im Herbst hergestellte Rübensaft reicht so bis zum Februar und ist dann ausverkauft, bevor es im darauffolgenden September wieder losgeht.

Albert Reinhold jr. | Foto Mirko Baschetti

Albert Reinhold jr. | Foto Mirko Baschetti

Die Fabrik könnte theoretisch mehr produzieren, so dass das ganze Jahr über verkauft werden könnte, doch dazu müsste nicht nur auf eingelagerte Rüben zurückgegriffen, sondern auch das traditionelle Herstellungsverfahren aufgegeben werden – und das Produkt würde sich dadurch zum Negativen verändern. Denn die Technik der Herstellung des Wunstorfer Rübensaftes ist eines seiner Alleinstellungsmerkmale, denn es sorgt für den typischen Karamell-Geschmack, der bei Verfahren in größerem, industriellerem Maßstab verlorenginge.

Da auch die Bündelung der Kräfte auf einen bestimmten Zeitraum den Reinholds ein erträgliches Einkommen beschert, ist diese saisonale Produktion möglich. Profit um jeden Preis ist nicht der bestimmende Antrieb. Es geht auch darum, das Produkt in seiner althergebrachten Form im Rahmen des familiären Betriebs zu bewahren. Auch Expansion ist und war nie ernsthaft ein Thema – denn auch das hätte den Verlust der familiären Strukturen und dieser besonderen Form der unternehmerischen Freiheit bedeutet. Man wäre von Geldgebern und Investoren abhängig geworden.

Dabei ist die Arbeit mit der reinen Produktion des Rübensaftes längst nicht beendet. Nach dem Abschluss der jährlichen Herstellung werden treue Kunden auch direkt an die Haustür beliefert – und in den Sommermonaten werden die Maschinen gewartet, repariert – und die Fabrik wieder auf Vordermann gebracht, denn der viele Dampf, der beim Rübenkochen entsteht, greift Ausstattung und Wände stark an. Renovierungen und Reparaturen machen die Reinholds, soweit das möglich ist, ebenfalls selbst. So ist es Jürgen Reinhold ganz recht, dass die Dimensionen trotz der vielen Arbeit überschau- und kalkulierbar bleiben.

Ein ewiger Geheimtipp

Die traditionelle Herstellungsweise ist es dann auch, die die Käufer mitunter von weither anreisen lässt. Der Verkauf konzentriert sich ebenso wie die Herstellung auf eine bestimmte Zeit. Die meisten Kunden decken sich mit Rübensaft ein, wenn er frisch ist, und kommen im September und Oktober zum Werksverkauf.

Das Faszinierende ist dabei, dass der Rübensaft heute weit über die Grenzen Wunstorfs hinaus bekannt ist, andererseits auch ein knappes Jahrhundert nach seiner Entstehung noch immer als Geheimtipp gehandelt wird. Denn der Vertrieb funktioniert seit Anbeginn praktisch über Mundpropaganda. Für den Rübensaft wird keine Werbung gemacht und man konzentriert sich im Wesentlichen auf den Direktvertrieb auf dem Fabriksgelände.

Auch in einem knappen Dutzend Supermärkte kann man den Rübensaft kaufen, beliefert werden jedoch immer nur einzelne Läden, in der Regel im Rahmen von Sonderständen wie „Produkte aus der Region“. Ladenketten als solche werden jedoch nicht versorgt. Dafür haben vor allem auch viele Hofläden den Rübensaft in ihrem Sortiment.

Die Kunden

Reinhold’s Rübensaft wird nicht per Post verschickt und kann somit nicht direkt vom Erzeuger über weite Distanzen einfach bestellt werden. Aus gutem Grund: ein versehentlich ausgelaufener Rübensafteimer wird von der Transportversicherung zwar ersetzt, doch die Schäden, die die klebrige Masse bei anderen Paketen verursacht, kann den Absender in den Ruin treiben. Rübensaft wird von den Reinholds daher nur lokal verkauft – oder in Eigenregie zu den Kunden gebracht.

Kunden kaufen Rübensaft im Fabrikverkauf | Foto: Mirko Baschetti

Kunden kaufen Rübensaft im Fabrikverkauf | Foto: Mirko Baschetti

Die Kunden kommen jedoch beileibe nicht nur aus Wunstorf. Mancher reist vom Harz oder aus Westfalen an, um sich mit Reinhold’s Rübensaft einzudecken. Natürlich auch aus Hannover, aber auch aus der Region Braunschweig oder gar aus Hamburg kommt Kundschaft. Die Kundschaft ist dabei in der Regel ein treues Völkchen: Manche Kunden haben „ihren“ Eimer jahrelang zu Hause stehen und lassen ihn immer wieder auffüllen. Zwischen 10 und 20 Euro lässt der durchschnittliche Kunde im Laden, manche besorgen jedoch auch eine Sammelbestellung für die ganze Familie oder ein ganzes Dorf. Am meisten Betrieb im Verkaufsraum der kleinen Fabrik herrscht montags und dienstags am späten Vormittag. Ein wenig verschnaufen können die verkaufenden Familienmitglieder am Mittwochnachmittag.

„Es gehört in diese Zeit“Stammkundin im Verkaufsraum, die seit 46 Jahren Rübensaft kauft.

Die Klientel ist eher die ältere Kundschaft – im Verkaufsraum sieht man kaum ganz junge Leute. Die jüngeren Stips-Liebhaber, jedenfalls jene, die den Saft selbst kaufen und nicht bei Omas Vorräten mitnaschen, sind überschaubar. Auch kaufen die jüngeren Kunden eher kleinere Mengen, während sich die ältere Stammkundschaft oft gleich einen ganzen Jahresvorrat mitnimmt.

Weltweit „exportierter“ Rübensaft

Die Kunden kommen, wenn auch aus dem ganzen Norden, zwar nicht aus aller Herren Länder, aber der Rübensaft wird durchaus bei Reisen als Mitbringsel, als lokale Spezialität, in die weite Welt zu Freunden und Verwandten mitgenommen. Seniorchef Reinhold ist es, der dazu zwei schöne Anekdoten kennt: So habe der Rübensaft auch schon die Einreisekontrollen des südafrikanischen Flughafenzolls durchlaufen müssen und einst jugoslawische Zöllner auf den Plan gerufen, die mit dem Stichwort „Rübensaft“ nichts anzufangen wussten. Die südeuropäischen Beamten etwa griffen daher beherzt in den Eimer – und gestatteten dann schnell die Weiterreise. Nach Südafrika wollte man den „Stips“ jedoch überhaupt nicht einreisen lassen. So wurde er listigerweise einfach umdeklariert: aus dem Eimer mit Brotaufstrich wurde auf dem Papier ein Eimer mit Reifenmasse, die auf den südafrikanischen Straßen getestet werden sollte.

Schließungsgerüchte sind nur Gerüchte

Ein Gerücht hält sich jedoch hartnäckig: dass die „Stipsfabrik“ schließen würde. Das tut sie tatsächlich – aber eben immer nur für ein halbes Jahr. Im darauffolgenden Herbst geht es weiter mit einem neuen Produktionszyklus. Doch wenn die Türen wie jedes Jahr irgendwann im November schließen – wir erinnern uns, es ist ein Saisonprodukt – und sich diese Nachricht verbreitet, wird das Wörtchen „vorübergehend“ in der Meldung manchmal unterschlagen – und heraus kommt wie bei der „Stillen Post“ das Gerücht, die Rübensaftproduktion hätte dichtgemacht.

„Stimmt es, dass Sie zumachen?“Häufig gestellte Frage an die Reinholds

Die Nachfrage hat im Laufe der Jahrzehnte zwar durchaus abgenommen, doch ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Wenn die Wunstorfer und ihre Gäste dem Rübensaft weiterhin die Treue halten, wird es auch in Zukunft immer wieder neuen Rübensaft geben, kurzfristige Hamsterkäufe sind nicht notwendig. Wer sich nicht ausreichend bevorratet hat, muss lediglich fürchten, zwischen Februar und August ohne Rübensaft dazustehen.

Tradition in der Moderne

Albert Reinhold sen. war es, der den Betrieb mit seinen beiden Brüdern 1933 hochzog und in Wunstorf etablierte. Generationenübergreifend betreibt die Familie Reinhold die Fabrik bis heute. Albert Reinholds Enkel, Firmenchef Jürgen Reinhold, lächelt, macht eine kleine Pause und weicht der Frage dann bescheiden aus, ob er ein wenig stolz sei, in inzwischen dritter Generation eine Art Institution in Wunstorf zu sein. Ihn mache vielmehr glücklich, dass so viele Kunden immer wiederkämen, vom Traditionsprodukt nach wie vor begeistert und dankbar dafür seien, es noch immer kaufen zu können.

Dabei könnte er zu Recht stolz sein, denn sein Betrieb bewahrt als einer der letzten das Wissen und die Technik um die traditionelle Rübensaftproduktion. Von einst über 500 Rübensaftfabriken, von denen es in Deutschland in der Nachkriegszeit noch eine in jeder größeren Stadt gab, sind fast alle verschwunden. Dass das Produkt Rübensaft in der heutigen Zeit etwas altbacken wirkt, das ist auch Reinhold durchaus bewusst. Er würde sich wünschen, dass auch wieder mehr junge Leute zum Rübensaft greifen, gibt sich jedoch realistisch. Eine gleichberechtigte Rückkehr auf den Frühstückstisch, neben Marmelade und Wurst, ist wohl nicht zu erwarten. Reinhold zieht einen Vergleich mit gedruckten Zeitungen, die sich heute auch niemand mehr kaufen und kurz darauf ins Altpapier geben müsse.

Rübensaft findet vor allem als Brotaufstrich Verwendung | Foto: Daniel Schneider

Rübensaft findet vor allem als Brotaufstrich Verwendung | Foto: Daniel Schneider

Der Vergleich hinkt etwas – denn für gedruckte Zeitungen gibt es durchaus Alternativen – glaubt man den Aussagen einiger Kunden, dann ist Reinhold’scher Rübensaft aber alternativlos. Für sie gehört der frische Sirup zum Herbst wie die fallenden Blätter. Richtig ist, dass sich auch Rübensaft vom einstigen Massen- zum Liebhaberprodukt gewandelt hat, wobei die Grenze auch zwischen den Generationen verläuft. Der Niedergang von Rübensaft als alltäglichem Lebensmittel und der Transformationsprozess hin zum Besonderen hat jedoch bereits viel früher eingesetzt – und scheint noch lange nicht abgeschlossen. Solange es noch gedruckte Zeitungen am Kiosk zu kaufen gibt, braucht man sich um Reinhold’s Rübensaft wohl keine Sorgen zu machen.

Die Wunstorfer „Stipsfabrik“ bleibt somit nicht nur eine traditionsbewusst arbeitende Fabrik, die man in dieser Form kaum noch vorfindet, sondern auch ein Garant für eine lokale Spezialität aus Wunstorf, die weiterhin ihre Fans finden wird.


Noch mehr Rübensaft: Die Bildreportage mit vielen O-Tönen aus der Stipsfabrik direkt bei Youtube ansehen: Lokale Originale: Die „Stipsfabrik“ der Reinholds

[Anzeigen]
Auepost wird unterstützt von:

Kommentare


  • Peter Rockstroh sagt:

    Als sogen. Inhucker, wie ich 1971 genannt wurde, kam ich aus beruflichen und Liebesgründen nach Wunstorf.
    Ich kannte aus dem Sauerland nur „Rübenkraut“ und lernte hier Reinholds Rübensaft kennen.
    Erst hier lernte ich den wahren Geschmack dieses köstlichen Brotaufstrichs kennen.
    Jahr für Jahr haben wir uns mit Reinholds Rübensaft eingedeckt. Ebenso unsere Nachkommen.
    Ein frisches Brötchen, etwas Butter und Rübensaft. Einfach lecker. Was will man mehr?
    Ich warte schon vor meinem leergekratzten Eimerchen auf den Saisonstart.

  • Schreibe einen Kommentar zu Peter Rockstroh Antworten abbrechen

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

    Kontakt zur Redaktion

    Tel. +49 (0)5031 9779946
    info@auepost.de

    [Anzeigen]

    Artikelarchiv

    Auepost auf …