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„Weitermachen, bis ich am Schreibtisch einschlafe“ – einer der letzten Holocaustüberlebenden spricht im Hölty-Gymnasium

02.10.2022 • Jesper Schwarzer • Aufrufe: 1529

Im September hatte das Hölty-Gymnasium Ivar Buterfas-Frankenthal zu Gast. Der Holocaustüberlebende drang tief vor zu seiner bewegten Zuhörerschaft. Eine Reportage von Jesper Schwarzer.

02.10.2022
Jesper Schwarzer
Aufrufe: 1529
Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal im Hölty-Gymnasium | Foto: privat

Es gibt Margot Friedländer, 1921 geboren, entkam dem Konzentrationslager Theresienstadt, sie lebt noch. Es gibt Traute Lafrenz, 1919 geboren, leistete verbotenen Widerstand in der „Weißen Rose“, auch sie lebt noch. Es gibt viele weitere Menschen, die ausgegrenzt, diffamiert, umgebracht wurden oder im Laufe der Zeit durch ihr Alter aus dem Leben scheiden. So wird einem bewusst, dass selbst überlebende Widerständler, Juden, Zeitzeugen wie Esther Bejarano (1924–2021) oder Trude Simonsohn (1921–2022) auch nur ein endliches Leben haben. Sie überleben teils, leben weiter, schreiben Bücher, halten Vorträge, haben in ihren 90ern, manchmal sogar 100ern noch Bedürfnis und Kraft, ihre Geschichte zu erzählen, doch irgendwann kommt der Tag, wenn der letzte Zeuge aus der Zeit des Hitler-Regimes aufhört zu leben.

Selbst wenn das jedoch eingetroffen sein wird, wird es Zeugen der Zeugen geben. Und einer davon durfte ich, inmitten einer mit Achtklässlern vollgefüllten Aula, sein – so wie viele höhere Jahrgänge in der Videokonferenz. Ivar Buterfas-Frankenthal und seine Frau Dagmar waren dort. Als 12-Jähriger zum Ende des Krieges war er zwar noch jung, der Jüngste aller acht Kinder, dennoch hatte er genug Kontakt mit Ausgrenzung, Diskriminierung im Kindesalter.

Foto: privat

Nachdem das Paar von der stellvertretenden Bürgermeisterin Birgit Mares und dem stellvertretenden Schulleiter Robert Conrad begrüßt worden war, begann der Hanseat, unbefangen von sich und seiner Geschichte zu erzählen. „Mein Vater war Jude, meine Mutter christlich“, begann Buterfas-Frankenthal zu erklären, „demnach waren wir, die acht Kinder, nach den Nürnberger Rassegesetzen Halbjuden. Und Untermenschen.“ Er begann von seinen Geschwistern zu erzählen: von Ursel, Kurt, Alice, Rolf und den anderen. Davon, wie sein Vater später ins KZ Sachsenhausen gebracht wurde und wie seine Schwester Ursel ihm alles zu erklären versuchte.

„Du bist Jude, du verpestest die Luft.“

Von dem normalen, friedlichen Großfamilienleben leitete er zu den härteren Episoden seines frühen Erwachsenwerdens über. In der ersten Klasse: „(…) und dann kam der Schulleiter und sagte ,Tritt mal hervor, Buterfas. Du wirst nicht mit auf Klassenfahrt kommen. Du bist Jude, du verpestest die Luft‘.“ Und später die Situation, die von allem am schlimmsten war. Deswegen steht er nachts auf und schleicht sich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Es ist ein Erlebnis aus seiner Grundschulzeit. Er war vermutlich allerhöchstens acht Jahre alt. Seine Mitschüler hatten den Rost eines Schuhabtreters heruntergenommen, auf die darunterliegende Matte Papier gelegt, dieses angezündet, das Gitter wieder aufgelegt und Ivar daraufgesetzt. Alle haben zugesehen.

Keine Hilfe von den Mitschülern

Meine Frage später, wer sich seiner annahm, beantwortete er offen: Erwachsene waren es, die dazukamen. Nicht seine Mitschüler. Zwischendurch zeigte Dagmar Buterfas-Frankenthal im multiperspektivischen Vortrag auch Dokumente, einen Fremdenausweis und ihre Judensterne. Sie erzählten von ihrer Vortragsreise: „Wir haben 17 deutsche Städte aufgesucht, (…) deswegen haben wir nun insgesamt 1.590 Auftritte in 30 Jahren gemacht. Ich habe 5.000–6.000 Briefe bekommen. Die kann ich gar nicht alle beantworten.“

Foto: privat

Was mich besonders an der Weise, zu reden, an diesem Mann begeistert hat, war die Tatsache, dass er seine Erfahrungen in Fazite, Appelle transferiert hat. Er hat uns angeschaut. Er hat zu uns, mit uns gesprochen. Bei seinem „Seid dankbar“-Appell sagte er zum Beispiel: „(…) und heute (…) leben wir in einem so guten Staat. Dort (er zeigte auf einen Jungen eine Reihe entfernt von mir) könnte der nächste Kanzler sitzen, sie (sein Finger ging zur anderen Aulahälfte) könnte Pilotin sein.“ Das Publikum schmunzelte etwas. „Ja! Wo ist das Problem?“ Später ergänzte er: „Ihr seid so gespannt eingestellt (…), und wenn ich eure wachen Augen und euer Interesse sehe – das ist einfach fantastisch. Deswegen werde ich das auch machen, bis ich irgendwann einmal an meinem Schreibtisch einschlafen werde.“

Keine Vergangenheit

Zum Ende hin ging es um politische und gesellschaftlich wichtige Menschen. Damals und auch heute. Er las aus einem Buch über Albert Speer, den „Lieblingsarchitekten“ Hitlers, und beschrieb einen SS-Offizier: „der hat (…) stolz davon berichtet, wie er Kinder wie Bilder aufgehängt hat.“ Und weiter habe er gesagt: „Und weil sie sich nicht selbst erdrosseln konnten, haben wir (…) nachgeholfen.“ „Und so einer“, sagte Buterfas-Frankenthal, „feierte am 24. Dezember Weihnachten und sang mit seinen Kindern ,Stille Nacht, heilige Nacht‘.“ Jene, die solche Vorträge über Antisemitismus und Rechtsradikalismus in Frage stellen, erinnerte er an den „Fall Walter Lübcke“, den Angriff auf eine Synagoge in Halle 2019 und einen jüdischen Jungen, dem vor kurzem ins Gesicht getreten wurde. „Auf einem Auge hat er sein Augenlicht schon verloren, ich war vor kurzem bei ihm. Hoffentlich kann er das andere behalten.“

Sein Hauptsatz zum Abschluss des Kapitels Nationalsozialismus in Deutschland ist häufig: „Es gibt (…) keine Kollektivschuld, aber eine Kollektivscham.“ Ich muss eingestehen: Bei dem Jungen, dem „Rösten“ in der Kindheit, dem SS-Offizier, all diesen Geschichten – natürlich fühlt man da eine Scham, eine kolossale Fremdscham. Nach vielen Geschichten über seine Begegnungen mit Prominenz – mit dem Ehepaar Schmidt, mit Kohl, Rau, von Weizsäcker etc. – ließ er zum Ende Raum für Wortmeldungen. Er bat Arndt Hellwig, den Fachobmann Geschichte, ihm die Fragen jedes Mal ins Ohr zu flüstern. Er und seine Frau seien zwar gehandycapt, jedoch wollte er „keine Frage mit einer dummen Antwort quittieren“. Ich fand es bewegend, dass er den Fragen des Publikums solch eine Bedeutung beimaß. Ihm lag etwas daran. Seine Hörprobleme sollten nicht einer treffenden Antwort im Wege stehen.

Eine Frage an den ältesten Jüngsten

David, der Erste, fragte: „Wer ist heute der Älteste aller acht?“ Buterfas-Frankenthals Antwort: „Du wirst staunen. Das bin heute ich.“ Danach gab er dem mutigen Fragesteller ein signiertes Buch. Nach weit mehr als den geplanten zwei Schulstunden konnte Buterfas-Frankenthal nur noch drei Fragen zulassen – und nochmal drei. Fast hätte Arndt Hellwig einem Mädchen weiter hinten das Wort erteilt, da zeigte Buterfas-Frankenthal auf mich, der ich vor ihm saß, in der ersten Reihe vor seinem Tisch. Aus Zufall war ich über die Schülerzeitung vor die Menge der Achtklässler gelangt. Sonst hätte ich auch vor dem Bildschirm im C-Trakt gesessen. Ivar Buterfas-Frankenthal: „Komm. Stell deine Frage! Wir tauschen doch ohnehin die ganze Zeit schon Blicke aus.“

David stellt seine Frage an Ivar Buterfas-Frankenthal | Foto: privat

Zuvor schon hatte er beim Thema „Schule von heute“ gesagt, dass er gerne genau dort gesessen hatte, wo jetzt mein Platz war. Werde ich einmal gefragt, was im Leben hängen bleibt, so werde ich damit antworten: Das. Genau das. Dieser Mann und seine Form, Interesse am Publikum, am Schüler, am Menschen zu haben, ist einzigartig, und ich kann nicht in Worte fassen, von welcher Bedeutung seine Informationen und sein Vermächtnis sein werden. Ich folge ihm und appelliere: „Hört diesen Menschen zu und besucht ihre Vorträge zuhauf!“ Das sage ich nicht nur, weil ich vor ihm gesessen habe, weil er auf mich eingegangen ist, oder als Geschichtsinteressierter, sondern als einer, der begeistert hinein- und geprägt wieder hinausgegangen ist.

Der Autor ist 16 Jahre alt und leitet die Redaktion der Schülerzeitung „Zwischen Himmel und Hölty“ am Hölty-Gymnasium. Er schreibt gern Familien- und Reiseberichte sowie Poetry-Slams, spielt Theater in der Laienspielgruppe Großenheidorn und Geige im Wunstorfer Musikschulorchester.
von Jesper Schwarzer
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Kommentare


  • Birgit Mares sagt:

    Lieber Jesper Schwarzer,
    Vielen Dank für den bewegenden Bericht über die Veranstaltung, an der ich auch teilgenommen habe. Sowohl hier im Hölty als auch in der Gedenkstätte Ahlem habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade die Jugendlichen besonderes Interesse an unserer leidvollen Geschichte haben und Lehren daraus ziehen wollen.
    Ich bin stolz auf Euch.
    Danke auch an die Auepost für die Veröffentlichung
    Birgit Mares

  • U. Schmoll sagt:

    Eine wirklich tolle Reportage.

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