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Zeitreise ins Wunstorf vor 100 Jahren

19.06.2019 • Daniel Schneider • Aufrufe: 1060

Geschichte ist besonders spannend, wenn sie auf einmal vor der Haustür stattfindet. Wer derzeit in die Stadtkirche geht, reist wie in einer Zeitmaschine 100 Jahre zurück in Wunstorfs Vergangenheit.

19.06.2019
Daniel Schneider
Aufrufe: 1060
Veranstaltungsplakat an Stadtkirche
Ausstellungsplakat an der Stadtkirche | Foto: Daniel Schneider

Im Geschichtsunterricht in der Schule zählt die „Weimarer Republik“ meist nicht zu den beliebtesten Stoffen – zu weit weg ist das damalige Geschehen vom Heute, zu vielfältig die politischen Umbrüche, zu unübersichtlich die Zusammenhänge der ersten deutschen Demokratie – und die Hitlerzeit meist sowieso „spannender“. Auch Zeitzeugen, die davon berichten könnten, gibt es immer weniger: Wer als Kind die letzten Jahre der Weimarer Republik noch selbst miterlebte, der ist inzwischen um die 100 Jahre alt.

Ganz so alt sind auch die Besucher der Weimar-Ausstellung in der Stadtkirche nicht – doch einige der älteren Interessierten erinnern sich durchaus noch an manche Namen von Wunstorfern, deren Wirken im damaligen Wunstorf in der Ausstellung gezeigt wird. So auch bei der Führung Anfang Juni, als Stadtarchivar Klaus Fesche ein gutes Dutzend Besucher persönlich durch die Ausstellung begleitete – und den ein oder anderen Namen auf den Schautafeln in den Fokus rücken ließ.

Bodmann-Motorrad von 1928
Im Rahmen der Ausstellung in der Stadtkirche „Wunstorf in der Weimarer Republik“ ist auch das Einzelstück von Karl Bodmann präsentiert worden. Das 1928 gefertigte Motorrad hatte 9 PS und kam über Umwege zeitweise in die Hände des Bokelohers Thomas Munk | Foto: Mirko Baschetti

Das wahre Leben

Auch wenn die Jahre zwischen 1918 und 1933 – gerade einmal 15 Jahre – sehr politisch geprägt waren, so gab es doch mehr als Machtkämpfe und Auseinandersetzungen in der großen und kleinen Politik. Das zeigt gerade „Wunstorf in der Weimarer Republik. Demokratie zwischen den Katastrophen“, das die ferne, heute abstrakt erscheinende Vergangenheit aktuell in die Stadtkirche holt. Es ist insbesondere der Lokalbezug, der „Weimar“ auf einmal auf eine ganz neue Art verständlich werden lässt, die damalige Zeit zwischen den Weltkriegen auf persönliche Weise erfahrbar macht. Denn was beim Fokus auf die Politik meist untergeht: Die 20er und 30er Jahre waren auch abseits der großen Städte ein gesellschaftliches Experimentierlabor, es herrschte Aufbruchstimmung, die Moderne schien angebrochen zu sein – und das ganz normale alltäglich Leben änderte sich teils gravierend. Nicht nur, weil die Grenzen in Europa neu gezogen worden waren, sondern weil sich althergebrachte Normen im Klima der neuen Zeit plötzlich änderten.

Führung durch die Weimar-Ausstellung
Klaus Fesche ordnet Namen zu | Foto: Daniel Schneider

Fußball, Motorrad, Boxen, Turnen

Was in der Kaiserzeit noch verpönt war, wurde nun gesellschaftsfähig: Fußball zum Beispiel. Wunstorf kam so auf einmal zu gleich zwei Fußballvereinen. Sport wurde nun generell ein Massenphänomen. Neben Fußball hielten Boxen und Turnen in Wunstorf Einzug, und – in unserer Stadt besonders stark – vor allem auch der Motorsport. Legendär ist das Rennen um den „Goldenen Löwen von Wunstorf“, ein Motorrad-Streckenrennen. Während Motorradrennen über die Straßen führten, Fußball auf der Feuerwehrwiese (dem heutigen Jahnplatz) gespielt wurde, hatten es die Boxer ganz zentral: Boxwettkämpfe wurden im Ratskeller ausgetragen. Bemerkenswert, erzählt Fesche, sei auch gewesen, dass damals die Hälfte der in Vereinen Organisierten Frauen gewesen seien. Das Vereinsleben war somit nicht einmal ansatzweise eine reine Männerangelegenheit, und die Fortschritte in der Gleichberechtigung führten nicht nur zum Frauenwahlrecht.

Politik

Den „ernsten“ Themen wird natürlich nicht minder entsprechender Raum gewidmet: Die Inflation, die reichspolitischen Entwicklungen, die neuen Strukturen in der Lokalpolitik. Die große Politik hatte schließlich nicht wenig Auswirkung auch auf das kleine Wunstorf, und man verfolgte die Entwicklungen im Deutschen Reich und dessen Rolle in Europa ganz genau. Faszinierend ist in diesem Zusammenhang auch das „Europa-Rad“, eine Art „Wikipedia aus Pappe“ aus den 30er Jahren, das für die Ausstellung beschafft wurde: durch Einstellen einer Scheibe auf einen Ländernamen ließen sich auf dem Rad Informationen über die neu strukturierten Länder Europas (wie z. B. Einwohnerzahl, Hauptstädte oder Flaggenfarbe) ablesen. Ein Exemplar ist im Original in der Ausstellung zu sehen, ein vergrößerter Nachbau aus Holz kann selbst ausprobiert werden.

Weimar-Ausstellung
Die Ausstellung ist textlastig | Foto: Daniel Schneider

Altes Wunstorf in Lebensgröße

Es gibt viel zu lesen, aber auch viel zu schauen. Die großformatigen Repliken alter Fotographien an den Wänden vermitteln einen Eindruck in Lebensgröße, wie es rund um die Stadtkirche früher ausgesehen hat. Und Klaus Fesche gibt den Abbildungen durch erzählerische Details neues Leben: Wer hätte gedacht, dass Wunstorfs erste Tankstelle direkt vor der Stadtkirche stand? Eine Zapfsäule war dort aufgestellt, wo heute der Eingang zur Sparkasse liegt. Ausgerechnet das technisch wohl eindrucksvollste Ausstellungsstück, das historische Motorrad, hat keinen direkten Wunstorf-Bezug, aber Motorräder wie dieses wurden damals auch in der Auestadt gefahren, wie die Schwarz-Weiß-Fotos im Hintergrund beweisen. Noch nicht mit NRÜ oder H auf dem Nummernschild, sondern mit römisch eins für „Preußen“ und dem „S“ für die Provinz Hannover – denn damals ging es noch nicht nach Anfangsbuchstaben, sondern man zählte von A für Berlin bis Z für die Rheinprovinz einfach durch.

Zeitmaschine

Die Stadtkirche bietet den perfekten Rahmen für die Ausstellung: Mitten im Stadtkern hat sie nun vorübergehend wieder all die Dinge vereint, die vor knapp hundert Jahren um sie herum stattfanden. Und die Ruhe, die in den Kirchenmauern liegt, lässt den Betrachter vergessen, dass draußen in der Fußgängerzone das Jahr 2019 weiterläuft. So kann man sich intensiv auf die Ausstellung einlassen und driftet mit der Zeit tatsächlich ab in alte Zeiten. Das etwas schummrige, gelbliche Licht im Kirchenschiff legt sich wie ein Sepiaschleier über die Ausstellungstafeln und lässt sie mit den historischen Objekten verschmelzen.

Die Weimarer Zeit ist eine faszinierende Epoche, die heute leider oft nur noch auf „war der Vorläufer des 3. Reiches“ reduziert wird. Dass mehr dahintersteckt, erfährt man in Wunstorf noch bis Ende dieser Woche, am Sonntag ist der letzte Ausstellungstag. Donnerstag und Freitag von 15 bis 18 Uhr und Samstag und Sonntag von 13 bis 17 Uhr können Interessierte die Ausstellung in Wunstorf letztmalig besichtigen. Am Sonntag wird es um 15 Uhr auch noch einmal eine Führung geben und es werden kurze Filme zu sehen sein. Die Ausstellungsmacher stehen ebenso für Gespräche und Diskussionen zur Verfügung.

Weimar-Ausstellung Wunstorf

Autoverleih 20er Jahre
„Carsharing“ vor 100 Jahren in Wunstorf
Führung durch die Weimar-Ausstellung
Klaus Fesche erzählt von vergangen Zeiten in Wunstorf | Foto: Daniel Schneider
Europa-Rad
Schreibmaschine
Schreibmaschine
NDSDAP-Tageszeitung
Niedersächische Tageszeitung
Frauenzeitschrift 20er Jahre
Frauenzeitschrift aus den 20er Jahren
Segelflugmodell
Die Segelfliegerei begeisterte die Wunstorfer in den 30er Jahren
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Kommentare


  • Grit Decker sagt:

    „Nix wie hin!“
    Die letzten Tage der Ausstellung gilt es für mich zu nutzen -nicht ausschließchen zum Aneignen von Wissen zu dieser so wichtigen Epoche in unserer Geschichte.

    Auch ganz Persönliches treibt mich nun endlich hin:
    mein längst verstorbener Großvater war „Baujahr“ 1909, hatte also ein sehr bewegtes Leben und die damaligen Zeiten inklusive die Jahre der Weimarer Republik 1:1 erlebt.
    Er hat nicht viel von früher erzählen wollen, abgesehen von seiner Zeit in der SA, auf die er -oh‘ Graus!- bis ins hohe Alter „stolz wie Bolle“ war.

    Also:
    meine Wochenendplanung steht!

    • Grit Decker sagt:

      UPDATE:
      JA, ich habe heute am Sonntag die ausgesprochen interessante Ausstellung besucht und konnte bis zur für um 15 Uhr angekündigten Führung zumindest die ausgestellten Exponate bestaunen und die Schautafeln in den Teilen ausführlich betrachten -und v.a. eingehened „studieren“, die mich ganz besonders interessier(t)en.

      „Fortsetzung folgt“??
      Ich fände das gut.
      Denn ich bin der Überzeugung, dass durch lebendig dargestellte Geschichte auch unser „Jungvolk“ (vielleicht?) erreicht werden kann.
      Nach meinem Dafürhalten angesichts der gesellschaftspolitischen Situation mehr als nur als wichtig.

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