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Kinder- und Jugendpsychiatrie – Wenn die heile Welt ins Wanken gerät.

10.01.2018 • Redaktion • Aufrufe: 776

Die Kindheit und Jugend glücklich und unbeschwert erleben. Dies wünschen sich alle Eltern für ihre Kinder. Doch was ist, wenn Kinder und Jugendliche am Leben verzweifeln? Kriegen Familien das allein hin oder ist es besser die Hilfe einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Anspruch zu nehmen? Ein Familienvater berichtet.

10.01.2018
Redaktion
Aufrufe: 776

Familie P. ist in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der KRH Psychiatrie Wunstorf auch bei Dr. Tobias Hartwich (M.) in Behandlung. Gespräche mit den Patientinnen und Patienten und mit den Angehörigen sind ein ganz wichtiger Baustein für einen langfristigen Therapieerfolg. | Foto: KRH Klinikum Region Hannover

Wunstorf (red). „Unsere ganze Familie lebte jahrelang am Meer“, erzählt Torsten P. Während er das sagt, verzieht sich sein linker Mundwinkel zu einem milden Lächeln. „Ich kann das gar nicht anders beschreiben, was wir da erlebt haben. Es war wie Ebbe und Flut und manchmal auch dramatisch wie eine Springflut.“ Der 48-Jährige ist Vater von vier Kindern. Was er schildert, ist ein Teil der Erkrankungsgeschichte seiner Tochter Jil. Sie sitzt neben ihm am Tisch. Eine junge Frau, schlank, die dunklen Haare zu einem dicken Zopf geflochten, der über die Schulter fällt. Vater und Tochter sind zu einer ambulanten Behandlungssitzung in die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in die KRH Psychiatrie Wunstorf gekommen. Einmal monatlich treffen sie sich mit Psychiater Dr. Tobias Hartwich. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und begleitet Jil ambulant mit einer medikamentösen und gesprächstherapeutischen Behandlung.

„Heute sind wir froh, dass wir hier in guten Händen sind. Aber die Angst, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, war sehr groß. Das war ein langer Weg hierher“, erinnert sich der Familienvater. „Wir dachten eben, das kriegen wir auch alleine hin.“

In den Zeiten der Ebbe war Jil sehr niedergeschlagen und antriebslos. In Zeiten der Flut, wenn Jil schlaflos, getrieben, fast größenwahnsinnig schien, war sie kaum zu bändigen. „Ich tigerte bis zwei Uhr nachts durch die Wohnung, spielte Klavier und legte das Handy kaum noch aus der Hand.“ Die Eltern waren ratlos, hilflos und stellten sich viele Fragen: Ist das vielleicht die Pubertät oder ist unsere Tochter krank? Vor drei Jahren war dann ein Punkt erreicht, an dem Vater Torsten P. und der ganzen Familie klar wurde, dass es so nicht weitergehen kann. Die Polizei hatte Jil nach Hause gebracht, nachdem sie auf einem Parkplatz die Nummernschilder mehrerer Autos abgeschraubt hatte. Rast- und ruhelos war sie an dem Morgen losgegangen, wollte eigentlich zur Schule. Stattdessen lief sie durch den Wald, dann in Richtung Supermarkt, wo sie Kunden auffiel, weil sie barfuß und völlig durcheinander hin und her rannte. „Ich kann mich nicht daran erinnern“, sagt Jil heute. Ihr Vater aber erinnert sich umso genauer. „Nach diesem Erlebnis haben meine Frau und ich verstanden, dass wir ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen“, erzählt er nachdenklich, „uns wurde klar: dieses Phänomen bekommen wir nicht allein in den Griff.“

Was die Familie „Ebbe und Flut“ genannt hat, bezeichnen Fachleute als bipolare Erkrankung – auch manisch-depressive Erkrankung. Für die Betroffenen fühlt sich das Leben an wie eine Achterbahnfahrt. Sie fallen ohne nachvollziehbare Gründe von einem Extrem ins andere. Je nach Ausprägung der Störung gehen manische und depressive Episoden mal direkt ineinander über, dann wieder liegen lange Zeiten symptomfreier Phasen dazwischen.

„Es ist völlig normal, dass Eltern nicht an eine psychische Erkrankung ihres Kindes denken, zumal sich in der Pubertät auch altersbedingte Phänomene und Erkrankungssymptome tatsächlich überlagern können“, erklärt Experte Hartwich.

Bei Jil wurde es aber immer klarer, ein geregeltes Leben im Spannungsfeld zwischen Manie und Depressionen ist für die junge Frau kaum möglich. Deshalb stimmten sie und die Familie schließlich einem stationären Aufenthalt zu. Sechs Wochen blieb sie damals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wunstorf.

„Wir versuchen dann mit den Jugendlichen Vereinbarungen zu finden“, erzählt der Kinder- und Jugendpsychiater. „Unsere Patienten müssen verstehen, dass wir sie vor Gefährdungssituationen schützen wollen. Jil war damals sehr kooperativ.“ Am Anfang eines stationären Aufenthaltes steht immer auch eine körperliche Untersuchung. Um eine Epilepsie auszuschließen, wurde bei Jil ein EEG, (Elektroenzephalografie) gemacht. Bei dieser Untersuchungstechnik wird mit Hilfe äußerlich aufgeklebter Elektroden die elektrische Aktivität der Hirnrinde gemessen. Es folgten noch Untersuchungen des Herz-Kreislauf-Systems und der Blutwerte, Gesprächstherapie, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Ruhephasen, Gruppenaktivitäten – das sind klassische Bestandteile einer Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei Jils Erkrankungsbild war relativ schnell klar, dass sie auch eine Behandlung mit Medikamenten benötigt. „Natürlich haben wir darüber gesprochen, welche Nebenwirkungen diese haben können, wie es mit der Suchtgefahr ist und warum es sinnvoll ist, ihre Therapie damit zu unterstützen“, verdeutlicht Hartwich. Gleich das erste Medikament wirkte gut, die Nebenwirkungen hielten sich in Grenzen. Das ist aber nicht immer so. Gewichtszunahme, Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Muskelverspannungen, Blutdrucksenkung und eine sinkende Libido können mit der Einnahme einhergehen.

Ganz ohne Nebenwirkungen ging es auch bei der jungen Frau nicht. Nach ein paar Wochen nahm sie zu. Doch Jil kriegte das schnell in den Griff. „Ich wollte nicht dicker werden, also habe ich mein Essverhalten angepasst.“ Und noch etwas passiert in dieser Zeit. Langsam setzt sich bei Familie P. die Erkenntnis durch, dass Jil diese Krankheit ein Leben lang begleiten wird.

„Die Akzeptanz ist der Schlüssel“, erklärt Kinder- und Jugendpsychiater Tobias Hartwich. „Die Patienten müssen ihre Erkrankung in der Lebensgestaltung und Stressbelastung mit einplanen, wie z. B. auch ein Diabetiker seine Erkrankung bei der Ernährung und Aktivität berücksichtigen muss. Aber dann kann man auch mit einer bipolaren Erkrankung gut leben.“

Jil nennt sie inzwischen „meine ruhelose Seele“ und nimmt jeden Tag zwischen 17 und 18 Uhr ihr Medikament. Das ermöglicht ihr ein ausgeglichenes Gefühlsleben, und sie kann sogar auf Partys gehen. „Ich gehe aber zwischen 23 Uhr und Mitternacht nach Hause. Ich weiß heute, dass ich ein bisschen reizärmer als andere leben sollte.“, sagt Jil.

Das wird so bleiben. Ganz verschwinden werden Ebbe und Flut nicht. Doch Jil weiß, in Flutphasen ist ein Tag-Nacht-Rhythmus wichtig, eine reizarme Umgebung, vielleicht muss sie die Dosis des Medikaments zeitweise anpassen. Um das zu klären, ist sie regelmäßig mit ihren Ärzten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der KRH Psychiatrie Wunstorf im Gespräch. Jils Vater, Thorsten P. erzählt, dass die Familie Halt im christlichen Glauben findet. „Wir haben die Erkrankung angenommen und möchten Jil ein Umfeld geben, in dem sie mit der Krankheit umgehen kann und selbstständig werden kann.“ Jil macht inzwischen eine Ausbildung, kann ein Leben führen, das fast ohne Einschränkungen funktioniert. „Das Meer ist für uns nicht weg. Aber wir sind ein Stück ins Landesinnere gezogen“, sagt P. und blinzelt seiner Tochter zu.

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