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Wenn das eigene Kind stirbt

18.01.2021 • Mirko Baschetti • Aufrufe: 3652

Der 12. Februar 2015 soll für Tim Deiters ein besonderer Feiertag werden, denn es ist der Tag seiner Volljährigkeit. Noch während die Gäste im Haus feiern, bekommen seine Eltern, Uwe und Marion, eine schreckliche Nachricht überbracht. Ihr älterer Sohn, Philipp, ist unerwartet im Alter von 21 Jahren gestorben – und mit ihm ein Teil der Familie.

18.01.2021
Mirko Baschetti
Aufrufe: 3652

Der 12. Februar 2015 soll für Tim Deiters ein besonderer Feiertag werden, denn es ist der Tag seiner Volljährigkeit. Noch während die Gäste im Haus feiern, bekommen seine Eltern, Uwe und Marion, eine schreckliche Nachricht überbracht. Ihr älterer Sohn, Philipp, ist unerwartet im Alter von 21 Jahren gestorben – und mit ihm ein Teil der Familie.

Starker familiärer Zusammenhalt: Uwe, Marion und Tim Deiters mit Foto des verstorbenen Philipp

Starker familiärer Zusammenhalt: Uwe, Marion und Tim Deiters mit Foto des verstorbenen Philipp | Foto: Mirko Baschetti

Eigentlich will Tims Bruder auch zum Geburtstag erscheinen, aber es stehen Klausuren an. Philipp studiert zu diesem Zeitpunkt im 5. Semester Betriebswirtschaftslehre in Halle und lebt im Haus der christlich ausgeprägten Studentenverbindung Wingolf. „Hier fühlte er sich wohl, wie in einer Familie“, erzählt die Mutter. Bis heute halten die Deiters Kontakt zum Hallenser Wingolf, der Vater ist dort seit Philipps Tod Ehrenphilister.
Am Abend will Philipp anrufen, doch dazu kommt es nicht. Stattdessen klingelt es um 19.30 Uhr an der Haustür der Deiters. Zwei Polizeibeamte und eine Person in Zivil stehen davor. Tim öffnet ihnen. „Ich dachte mir noch nichts dabei und kümmerte mich wieder um meine Gäste“. Im Obergeschoss offenbart sich die dritte Person den Eltern als Notfallseelsorgerin, eine Pastorin aus Idensen. Es hätte einen Unfall gegeben. „Ihr Sohn Philipp hat ihn nicht überlebt.“

Einfach vom Rad gefallen

Der Schock bei den Eltern setzt abrupt ein, Brust und Kehle schnüren sich zu. „Ich kam mir vor wie in einem Film“, erzählt Marion. „Ich konnte es einfach nicht fassen, wollte es einfach nicht glauben.“ „Es war surreal“, ergänzt Tim, der wenig später die Treppe hinaufsteigt, um zu erfahren, „was da eigentlich vor sich ging“. Noch umnebelt von der Nachricht, treten sie gemeinsam den schweren Gang zur Gesellschaft im Erdgeschoss an. „Ich versuchte, mich zu sammeln, und sagte ihnen, was passiert ist“, erzählt Uwe. „Es ist schon schlimm genug, ein Kind zu verlieren, aber dann noch am 18. Geburtstag des anderen Sohnes … das ist noch eine Nummer obendrauf“, ergänzt Marion.
Philipp fällt auf dem Weg zur Universität unvermittelt vom Fahrrad und ist sofort tot. Da es keine offensichtliche Todesursache gibt, wird er in die Rechtsmedizin gebracht, die bei ihm ein Aorten-Aneurysma feststellt – eine geplatzte Arterienerweiterung in der Nähe des Herzens. Philipp war groß, schlank und hatte feingliedrige Hände – die Krankenschwester hatte bei der Geburt gescherzt, dass er einmal Klavierspieler werden würde. Doch es waren Anzeichen des Marfan-Syndroms, einer seltenen genetischen Erkrankung, bei der das Bindegewebe geschwächt ist und ein Aneurysma begünstigt.
Am Folgetag fahren die Eltern mit Tim nach Halle, aber da sich Philipp noch zur Obduktion in der rechtsmedizinischen Abteilung befindet, dürfen die Eltern nicht zu ihm. „Wir bekamen nur eine Tasche mit seinen Sachen in die Hand gedrückt“, erzählt Uwe leise. „Es war sehr schwer, ihn nicht sofort sehen zu können.“ Erst nach einigen Tagen wird der Leichnam freigegeben und dann nach Wunstorf überführt, so dass die Deiters Philipp erst kurz vor der Trauerfeier zu Gesicht bekommen und gemeinsam mit Familie und Freunden persönlich Abschied nehmen können.

„Die Nachricht von Philipps Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer“, sagt Marion. Er war gut vernetzt, im Fußballverein und in der Nachbarschaft beliebt. „Die Menschen haben weniger angerufen, sondern sind direkt vorbeigekommen“, erzählt sie weiter. Was anfangs noch tröstlich war, wurde schon bald zu viel, gerade für Sohn Tim. Er tauchte einige Tage zu seiner Freundin ab. „Ich brauchte erst einmal Abstand und Ruhe, um das Ganze zu verstehen“, sagt Tim, der etwa 3 Wochen nicht zur Schule geht, trotz des gerade laufenden Vorabis. Die Nachbarn kommen jeden Tag vorbei und bringen Essen. „Sie, viele Freunde sowie die Angehörigen haben uns aufgefangen und über den Tag geholfen“, erzählt Uwe, „genauso wie die Dorfgemeinschaft.“

Weiterleben hinter einem Schleier

Die Trauerfeier und das Abschiednehmen sind hilfreich für die Familie. „Er lag ganz friedlich da, als würde er schlafen“, erzählt Bruder Tim. Mehrere hundert Menschen kommen, teilen Trauer und Tränen und nehmen einen allerletzten Abschied von Philipp. Tim hat seitdem Schwierigkeiten, seinen Bruder auf dem Friedhof zu besuchen. „Ich bin fast zweieinhalb Jahre nach Philipps Tod gar nicht beim Grab gewesen“, erzählt er. „Ich konnte es einfach nicht.“ Nach der Urnenbeisetzung gibt es lange keinen Grabstein. „Das hat etwas Endgültiges“, sagt Marion, „doch, wenn sein Name in Stein gemeißelt steht, dann ist es noch mal ein ganz anderes Empfinden.“ Noch schmücken nur eine getöpferte Platte mit Namen, eine Kerze, ein Bäumchen und Blumen die Grabstätte, doch die Familie fühlt sich jetzt bereit, einen Grabstein anfertigen zu lassen. „Wir konnten es einfach nicht vorher“, sagt Marion.
Der Vormittag jeden 12. Februars ist für Philipp da, und Uwe und Marion gehen dann zusammen zum Grab. Der Tag bleibt zurückhaltend, besinnlich im Kreise der engsten Familie. „Wir hatten Angst, dass Tim seinen eigenen Geburtstag nie mehr feiert“, sagt Marion, „und auch das schmerzt als Elternteil.“ Denn trotz seines Geburtstages wird es wohl niemals mehr ein fröhlicher Tag für ihn sein.
„So richtig lebensfroh wird man vielleicht nie wieder“, sagt Uwe. „Man lebt manchmal wie hinter einem Schleier.“ Wenn andere von ihren Kindern sprechen, fällt es Uwe und Marion manchmal schwer, offen darüber zu reden. Man halte sich dann doch eher zurück, die Brust schnüre sich dann schnell zu. „Wenn man z. B. beim Arzt ist und ein Formular ausfüllen muss, kommt die Frage: ‚Wie viele Kinder haben Sie?‘ Was schreibt man dort hinein?“, fragt sich Marion.
Es sind Kleinigkeiten des Alltags, die die Familie an Philipp erinnern – ein Sonnenaufgang, ein Gedanke, ein Schmetterling, der scheinbar auf eine innere Frage mit seiner Präsenz antwortet. „Philipp ist immer noch da. Nicht körperlich, aber er ist stets präsent“, sagt Marion. Aber wenn sie mit Freunden über deren Kinder und deren Lebensläufe spricht, schmerzt die Gewissheit, dass ihr Sohn Philipp all das nicht mehr erleben wird: kein Studium oder Beruf mehr, keine Hochzeit, kein Nachwuchs. „Ich frage mich oft, was wohl aus ihm geworden wäre, aber das kann niemand beantworten.“

Er bleibt immer ein Teil der Familie

Etliche Fotos von Philipp schmücken das Haus der Deiters. Am Frühstückstisch zündet Vater Uwe eine Kerze für ihn an. Zu Anfang weint Marion noch jedes Mal, wenn sie Bilder von ihm anschaut, doch mittlerweile ist es ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass er noch mittendrin und Teil der Familie ist. „Man muss versuchen, irgendwie mit dem Tod des eigenen Kindes umzugehen, aber das ist sehr, sehr schwer“, sagt Marion. „Es läuft in Wellen ab – es kann mir heute prima gehen, und morgen bin ich das heulende Elend.“
Um zur Ruhe zu kommen und dem Alltagstrott etwas zu entrinnen, beantragen die Eltern 2016 eine Rehamaßnahme. „Es war ein Kampf mit den Behörden, der ein dreiviertel Jahr gedauert hat“, sagt Uwe. „Wir fühlten uns von der Rentenversicherung im Stich gelassen, die uns in separaten Kliniken unterbringen wollte, obwohl wir ausdrücklich eine gemeinsame Trauerbewältigung wollten.“ Doch letztlich finden die Eltern einen Platz in einer Potsdamer Klinik. Während viele Kliniken sich auf das Burnout-Syndrom spezialisiert hatten, spielt Trauerarbeit oft keine Rolle. Dort aber lernen sie durch Trauertherapeuten bei dem sechswöchigen Klinikaufenthalt, besser und offener über ihre Trauergefühle zu sprechen. „Reden ist das Wichtigste“, sagt Marion, „auch wenn man den Partner oder das Kind nicht immer mit der eigenen Trauer konfrontieren will“.
Während die Eltern professionelle Hilfe in Anspruch nahmen, hat ihr Sohn Tim sich eher zurückgezogen und viel mit sich selbst ausgemacht. So unterschiedlich die Familienmitglieder sind, so unterschiedlich wird mit der eigenen Trauer umgegangen, denn „jeder trauert anders“, sagt Uwe. „Für mich war der Führerschein und das Abitur eine erste Ablenkung“, erzählt hingegen Tim. „Die Trauer wird uns begleiten bis ans Lebensende“, fährt er fort. Die Intensität nehme ab im Laufe der Zeit, aber „es ist Teil des Lebens, man muss lernen, damit umzugehen“. Sein Leitspruch ist seitdem: „Jedes Mal, wenn der Wind pfeift und durch Äste weht, wissen wir, du warst da; wolltest nur nach dem Rechten seh’n.“
Manchmal wünscht sich Marion, dass alles nur ein böser Traum wäre und ihr Sohn Philipp im nächsten Moment lächelnd durch die Küchentür kommt. Nicht ohne Grund lautet die Traueranzeige: „Wir wissen, dass du nicht mehr da bist, begriffen haben wir es noch nicht. Ohne dich zu leben, müssen wir erst noch lernen.“

Dieser Text erschien zuerst in Auepost #12 (Oktober 2020)

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Kommentare


  • Roland Krautwald sagt:

    Wenn man diese Zeilen gelesen hat, merkt man selbst das man sich nicht vorstellen kann was Euch bewegt. Welche alltäglichen Situationen einen immer wieder aufs Neue belasten.
    Das Beispiel mit dem Wind in den Bäumen fand ich sehr schön. Und das dieser Bericht veröffentlicht wird.
    Ich wünsche Euch weiter viel Kraft und denkt daran das auch wir Tim nicht vergessen werden.

    Lieben Gruß
    von den Tischler Kraut´s

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