Wunstorfer Auepost
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No risk, no fame

09.05.2020 • Mirko Baschetti • Aufrufe: 1228
09.05.2020
Mirko Baschetti
Aufrufe: 1228

Der 28-jährige Wunstorfer Tristan Siewert hat vor 15 Jahren angefangen, sich mit Graffitis zu beschäftigen, und bringt seitdem mit viel Leidenschaft und Enthusiasmus seine Werke auf Leinwände, Betonfassaden und Mauerwerke.

Tristan Siewert

Tristan Siewert in seinem Element | Foto: LeoLo

Bunt scheint seine Lieblingsfarbe, Kleckser aus Gelb, Blau und Rot säumen seine Kleidung. Mit seinen abgenutzten Handschuhen, der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze und der Atemschutzmaske sieht er aus wie ein Streuner einer postapokalyptischen Szene auf der Suche nach Lebensmitteln. Doch seine Suche gilt geeigneten Flächen, auf denen er seine Werke auftragen kann. Seine Werkzeuge sind Dose und Phantasie. Manchmal benutzt er noch seine „Cutpappe“, um sehr gerade Linien zu ziehen.

Als Tristan während einer Zugfahrt nach Hannover Jugendliche beim Sprayen an alten Gemäuern zusah, begann seine Passion für die Straßenkunst. Ihn faszinierten die großflächigen vielfarbigen Bilder, die grell aus den monotonen Fassaden hervorstachen. War es anfangs noch ein vorsichtiges Herantasten an die Materie – „Gekrickeltes und Abgemaltes“, wie er sagt – so schärfte sich sein Stil im Laufe der Zeit. Der Strich wurde feiner, und das fortschreitende Talent spiegelte sich auch in seinen Werken wider. Diese hält er stets mit der Kamera fest, denn Graffitis sind weder für die Ewigkeit noch für Monate oder Wochen gemacht. Es geschieht regelmäßig, dass sich binnen weniger Tage der nächste Künstler einer kurz zuvor besprühten Fläche bedient. Eine Grundierung malt Bisheriges über, und nach der Trocknungszeit verewigt sich bereits der nächste Sprayer. Tristan hält sich dabei an einen Ehrenkodex der Szene: Nichts übermalen, wenn man nicht besser ist, bessere Ideen oder bessere Motive hat. Diese wollen dabei gut überlegt sein, denn das Hobby ist kein günstiges. Eine Spray-Dose kostet etwa 4 Euro. Wenn er sein Bild fertiggestellt hat, wurden 12 Dosen an die Wand gesprüht.

Seine Werke seien unpolitisch – er male Kombinationen aus Wörtern, Dingen oder Figuren. Nach Fertigstellung verziert er diese wie in der Szene üblich stets mit seinem „Tag“, den Künstlernamen. „Meiner lautet Mr. Snak One“, sagt er schmunzelnd. Früher hatte er immer kleine Snacks dabei, deshalb bot sich der Name einfach an.

Tristan arbeitet als Straßenbauer bei der Üstra und nebenbei ehrenamtlich im Jugendzentrum Sachsenhagen, wo er vor 15 Jahren selbst seine Freizeit verbrachte. „Das Sprayen ist ein Ausgleich von der Arbeit“, sagt er. „Ich stecke mir Ohrstöpsel rein und bin dann mit Musik und Bild in meiner eigenen Welt.“ Denn oft malt er ganz allein und versinkt in seinem Hobby. Doch genauso mag er es, mit Gleichgesinnten zusammenzukommen und sich über Graffitis auszutauschen. Der Reiz des Graffiti sei eben auch die Gemeinschaft, das Bereisen anderer Städte, um sich mit anderen Sprayern zu treffen und an gemeinsamen Projekten zu arbeiten.

Er möchte der Welt die Kunst des Graffiti etwas näherbringen, erläutert Tristan. Sein Ziel ist es, „das Grau zu verdrängen und mehr Farbe in die Region Hannover zu bringen“. Die wirklich schönen Graffitis werden oft aufgrund von „Schmierereien“ übersehen. Daher leide auch der Ruf dieser Kunstform. Ob er sich selbst als Künstler sehe, mag Tristan nicht für sich beantworten, denn das sei für seine Leidenschaft unerheblich. „Es ist halt der individuelle Wahnsinn der Szene, private Hauswände zu beschmieren“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

Als Künstler muss man einen gesunden Schaden haben. Tristan

Derzeit macht er viele Lost-Place-Touren und ist auf der Suche nach geeigneten Graffiti- Flächen. „Ich will damit der Umgebung, die mich inspiriert, etwas zurückgeben“, sagt Tristan. Während einer Begehung im Harz habe er eine Krankenhausruine gesichtet, deren Mauerwerk er bemalen will. Als Motiv könne er sich ein Skalpell vorstellen. „Als Künstler muss man einen gesunden Schaden haben“, sagt Tristan und lacht. „Wer sonst geht bei Wind und Wetter, bei Schnee und Regen nach draußen, um Wände zu sprayen?“

Die einzige legale und von der Stadt Wunstorf freigegebene Graffiti-Fläche liegt am Bahnhof unter der Hochstraße und wird in der Szene „Hall“ oder „Hall of Fame“ genannt. Überhaupt sei Fame ein zentraler Aspekt unter Gleichgesinnten, die Zurschaustellung von Graffitis. „Je krasser und aufwändiger das Motiv oder der Ort ist, desto mehr Fame bekommt man.“ Es geht ums Auffallen, gerade auch innerhalb der Sprayer-Gemeinde.

Die Wunstorfer Hall wird hauptsächlich von Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren genutzt, obwohl sie weniger ein ständiger Treffpunkt der Szene sei als vielmehr projektbezogener Gestaltungsort. Er selbst zählt sich mit seinen 28 Jahren bereits zum „alten Eisen“, obwohl er sich derzeit mit ca. einem Motiv pro Monat laut eigenem Bekunden in einer Hochphase des Schaffens befindet. Dabei lässt er sich Zeit. An rund 5 Wochenenden sitzt er an einer ca. 70 m² großen Fläche. „Perfektion dauert nun mal“, wie er sagt. Deshalb reagiert er auf das in letzter Zeit stark zugenommene illegale Sprayen von Bushaltestellen, Stromkästen oder Hauswänden in Wunstorf auch mit Unverständnis. Hier werde oftmals nur wild beschmiert, und das negative Image fällt auf die ambitionierten Maler zurück. Aber durch mangelnde Angebote könne er die nächtlichen Streifzüge der Jugendlichen nachvollziehen, die dann ihrem kreativen Drang folgen.

Tristan selbst ist in Sachsenhagens Jugendzentrum groß geworden. Nun bringt er den Kids selbst das Sprayen bei. Überhaupt könne man den Wert von Jugendzentren nicht hoch gut einschätzen. Sie seien wichtiger Anker und Treffpunkt. Mangels geeigneter Treffpunkte in der Umgebung hätten Jugendliche jedoch oft Langeweile und zögen daher durch die Straßen. Es verwundere deshalb nicht, dass dieser Angebotsmangel die Gewalt gegen Objekte in Form von beispielsweise wildem Sprayen oder Beschmieren fördere.

Man kann nicht Snob sein und gleichzeitig Graffitis malen. Tristan

Tristans Aussage zufolge kann jeder anfangen, Graffitis zu malen. Die einzige Voraussetzung sei, „sich auch mal dreckig zu machen“. Deshalb könne „man nicht Snob sein und gleichzeitig Graffitis malen.“ Künstlerisches Talent sei beim Sprayen keine Grundvoraussetzung, jedoch sollte man ambitioniert sein und viel Phantasie besitzen. In der Zukunft würde Tristan gerne einmal die kleinen Stromkästen in Wunstorf verschönern oder große triste Wände gestalten. Gerne hätte er auch mit anderen die Bahnhofsunterführung bemalt, doch gefragt oder eingebunden wurde die Graffiti-Szene vor Ort nicht. Stattdessen beauftragte die Stadt Maler und entschied sich für rostbraune Balken auf weißem Untergrund.

Das Hobby ist nicht frei von gesundheitlichen Folgen. Eine verstopfte Nase ist Usus, und sobald Kopfschmerzen hinzukommen, setzt er eine Atemschutzmaske auf. Er habe auch von Langzeitschäden gehört, doch Grund zum Aufhören sei das nicht: „Ich hoffe, dass ich auch mit 60 Jahren noch spraye, viel reise und Spuren hinterlasse.“

Dieser Bericht erschien zuerst in Auepost 01/2020

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Kommentare


  • Basti g. sagt:

    Manche sprayer sollten mden umweltschutz nicht vergessen ! Unter der hochstrasse findet man immer spraydosen dazu kommt noch der Feinstaub den die Dosen beim sprayen freisetzen ! Nehmt doch mal Farbe auf wasserbasis mit nachfülldosen

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