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Der Mediziner

07.07.2020 • Daniel Schneider • Aufrufe: 1384
07.07.2020
Daniel Schneider
Aufrufe: 1384

Ein Wunstorfer Arzt wird im Urlaub von der Corona-Pandemie überrascht und lässt sich bei der Rückkehr nach Wunstorf sofort testen. Die Bewohner von Alten- und Pflegeheimen werden unterdessen von der Außenwelt so weit wie möglich isoliert. Doch es fehlt an Schutzbekleidung für das Personal.

Dr. Friedhelm Gralher

Allgemeinmediziner Dr. Friedhelm Gralher | Foto: privat

Dr. Friedhelm Gralher ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Wunstorf. Bis zum vergangenen Jahr führte er eine eigene Praxis, hat nun aber seine Stunden stark reduziert. Seit vielen Jahren ist er auf Palliativmedizin spezialisiert. Gralher ist ein besonnener Mann, der nicht zu Übertreibungen neigt. In 33 Berufsjahren hat er viel gesehen. „Dies ist sehr ernst, und das dauert noch lange“, sagt er. Auch in seiner Praxis werden aktuell Corona-Patienten aus Wunstorf betreut, derzeit keine schweren Fälle: Die Kranken sind in häuslicher Quarantäne. Gralher nimmt an deren Behandlung nicht teil, denn er praktiziert wegen eigener Vorerkrankung nicht. Zufälligerweise war er just Ende Februar in Südtirol im Urlaub, wo er wie jedes Jahr am Fuß der Sellagruppe mit der Familie urlaubte. Doch dieses Jahr war dort alles anders.

Dies ist sehr ernst und dauert noch lange Dr. Friedhelm Gralher

Während im nahen Venetien die Zahl der Corona-Fälle dramatisch anstieg, lief im Alta-Badia-Tal der Ski-Zirkus noch auf Hochtouren, berichtet Gralher. Informationen über die Zuspitzung der Lage gab es von italienischen Behörden nicht. Die Touristen waren auf die Berichterstattung von Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen angewiesen. Unter den Deutschen wuchs die Unruhe, und einige Gäste reisten wieder ab, obwohl sie erst kurz zuvor in Südtirol angekommen waren. Die Stimmung, so Gralher, habe das nicht getrübt: Ein berühmter italienischer Espresso-Produzent habe eine Zeltstadt aufbauen lassen und eine große Werbeaktion durchgezogen, ebenso der Touristikverband, dessen Kinderfest mit Riesen-Programm Hunderte von Menschen angezogen habe. „Wir haben versucht, unter uns zu bleiben und den Trubel zu meiden“, erzählt der Arzt. Bei der Rückreise erleben die Gralhers nun eine veränderte Lage: Mitarbeiter der italienischen Eisenbahngesellschaft desinfizierten die Abteile vor dem Start und bei jedem Zwischenstopp. Wer krank wirkte, musste die Temperatur messen lassen. Die Vorsorge galt nur für die Fahrt durch Italien. Weder in Österreich noch hinter der deutschen Grenze gab es Informationen, Kontrollen oder Desinfektionen.

Schon in Südtirol hatte er Corona-Tests für sich und die Familie vorbereiten lassen. Zurück in Wunstorf, klappte das innerhalb weniger Tage. Auch die Wiederholung zehn Tage später ergab: keine Viren, keine Erkrankung. Dennoch blieb Gralher seiner Praxis fern, weil seine Kolleginnen dies so wollten – und weil er sich selbst schützen will. So hat er auch ein finanziell reizvolles Angebot der Kassenärztlichen Vereinigung ausgeschlagen: Die Standesorganisation hat Medizinern in Teilzeit und Rente angeboten, für 200 Euro pro Stunde im Corona-Testzentrum des Roten Kreuzes auf dem Messegelände mitzuarbeiten.

Kommt für mich nicht in Frage Dr. Friedhelm Gralher

„Kommt für mich nicht in Frage“, sagt der Wunstorfer – und spart nicht mit Kritik. Die Kassenärztliche Vereinigung sei für die Verteilung von Schutzkleidung an Praxen zuständig, habe aber die drohende Gefahr offenbar nicht richtig eingeschätzt. Überall fehle Material, überall seien die Helfer in Gefahr, sich anzustecken. „Wir haben jetzt nach wiederholtem Drängen ein paar Handschuhe und Schutzanzüge für die Praxis bekommen. Viel zu wenige, und erst, als wir gemeldet haben, dass wir Corona-Patienten in der Praxis haben. Das reicht hinten und vorne nicht.“

Die Schwächsten

Auf der einen Seite geht es für viele um das wirtschaftliche Überleben. Auf der anderen Seite geht es tatsächlich um Leben und Tod. Zum Beispiel in den Altersheimen. „Wolfsburg“ ist dabei vor kurzem zu einem Synonym dafür geworden, was passiert, wenn SARS-CoV-2 in einer Seniorenresidenz ausbricht. Und das fast die ganze Bewohnerschaft einer solchen Einrichtung erkrankt, das könne auch in Wunstorf jederzeit passieren.

Das sagt nicht irgendwer, sondern Jens Tegeler: Der 56-Jährige leitet das Familienunternehmen gleichen Namens, die Tegeler-Gruppe mit Sitz in Wunstorf mit rund 2.500 Mitarbeitern. Neben Gebäude- und Personaldienstleistungen sowie Catering betreibt das Unternehmen verschiedenste Pflegeeinrichtungen und -dienste im ganzen Norden. An 16 Standorten ist man damit vertreten und hält 1.500 Betten vor. Dazu zählt auch die Intensivpflege.

Jens Tegeler

Jens Tegeler führt das Familienunternehmen | Foto: Daniel Schneider

Seniorenheime könne man nicht komplett abriegeln, das Risiko nur reduzieren, sagt der Firmenchef. Dabei ist man im Umgang mit Angehörigen zwar freundlich, aber strikt. Denn auch für Angehörige besteht in Senioreneinrichtungen ein absolutes Besuchsverbot. Den Vater oder die Mutter im Altenheim könne man derzeit nur über Skype „besuchen“, erzählt Tegeler. Die Mitarbeiter würden dazu mit Tablets aushelfen. Nicht alle können oder wollen das verstehen. Manche Angehörigen würden ihn hartnäckig kontaktieren, um einen persönlichen Besuch bei Familienmitgliedern zu erreichen. Doch das ist ausgeschlossen, die Türen für Außenstehende fest verschlossen. Das Infektionsrisiko bleibt jedoch über das Personal bestehen. Mitarbeiter müssen die Einrichtungen betreten und verlassen, und dabei gebe es keinen vollständigen Schutz, erklärt Tegeler. Auch für die zu Pflegenden besteht keine Ausgangssperre, man könne nur darauf hinwirken, dass sie freiwillig die Einrichtung nicht verließen.

Es ist eine schlimme Zeit Jens Tegeler

Erschwerend kommt hinzu, dass den Pflegeeinrichtungen inzwischen das Material ausgegangen sein dürfte. Man selbst sei auf etwa zwei Wochen bevorratet, berichtet Tegeler, danach wird es knapp. Daher habe man mit anderen Unternehmen eine Art Tauschring eingerichtet. So wird derzeit ganz pragmatisch Schutzausrüstung getauscht: Der eine habe noch Masken, der andere Desinfektionsmittel. Die Mitarbeiter und vor allem Lieferanten werden nun extra unterwiesen, wie sie sich in dieser Zeit zu verhalten haben. Denn wenn sich nur eine Person nicht an die Regeln halte, gefährde dies das gesamte Schutzkonzept. Die eigenen Mitarbeiter von Tegeler arbeiten im Umgang mit Gefährdeten mit der „PSA“, der persönlichen Schutzausrüstung. Dazu zählen Kittel, Schutzbrille, Handschuhe und Mundschutz. Aufnahmen sind weiterhin möglich, da die Häuser ausreichend Möglichkeiten haben, die nun obligatorische Quarantäne sicherzustellen.

Nicht nur für die Mitarbeiter ist die psychische wie physische Belastung – in der Woche wird nun pro Tag bis zu 12 Stunden gearbeitet – groß. Auch die Senioren haben Angst. Corona ist innerhalb der Einrichtungen ein nicht kleines Thema, und die Bewohner sähen schließlich auch fern, sagt Jens Tegeler. Den Betreuungskräften, die neben den Altenpflegern in den Einrichtungen arbeiten, kommt nun die besondere Aufgabe zu, diese Situation erträglicher zu gestalten, etwa mit Sing- und Lesestunden. Denn der normale Alltag ist auch hier stark eingeschränkt.

Während die einen in den Pflegediensten und -heimen mehr arbeiten, arbeiten die anderen weniger. Bei Tegeler ist das Catering das Sorgenkind: Da Schulen und viele Betriebe geschlossen haben, entfällt damit auch die Notwendigkeit der Essenslieferung. 100 Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt.


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Teil 1: Wunstorf in Krisenzeiten
Teil 2: Die Infizierte
Teil 3: Die Wirtschaft im Ungewissen
Teil 4: Der Mediziner
Teil 5: Stadt und Tourismus
Teil 6: Die Helfer
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Dieser Artikel war Teil der Titelgeschichte in Auepost #8 (Mai 2020)

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