Die Pandemie hat auch in Wunstorf nicht nur das Gute im Menschen zum Vorschein gebracht. Denn manchmal ist gar nicht das Virus das Problem, sondern die Mitmenschen. Die einen schnappen den Mitmenschen die letzte Toilettenpapierrolle vor der Nase weg – und können es noch nicht einmal erklären. Hätte niemand gehamstert und stattdessen normal weiter eingekauft, dann wären andere nicht gezwungen gewesen, einen Supermarkt nach dem anderen abzuklappern, um Grundlegendes zu finden. Das Risiko der Virenverbreitung wurde damit nur noch erhöht. Not macht aber auch erfinderisch, denn es gab auch diejenigen, die jeden rechtlichen Schlupfwinkel nutzten, um trotz Schließungsverfügung weiterzuverkaufen – indem sie neben ihrem üblichen Non-Food-Sortiment plötzlich auch einige Lebensmittel anboten, um als Verkaufsstelle des täglichen Bedarfs zu gelten – bis Ordnungsamt und Polizei einschritten.
Ich wünsche mir, dass nach Corona etwas entsteht Jens Tegeler
Dass das Schlechte und das Gute oft nah beieinanderliegen, beweist nun aber ausgerechnet auch die besagte Ressourcenknappheit. Denn medizinisches Material fehlt tatsächlich überall. Obwohl drohende Engpässe auch bei Schutzausrüstung infolge von durchgespielten Pandemieszenarien seit Jahren bei der Bundesregierung bekannt sind, stockt es jetzt bei der Versorgung. Das führt nun dazu, dass medizinisches Personal und Pflegekräfte ihre Schutzausrüstung teils improvisieren müssen.
Hier bringt die Krise das Beste im Menschen hervor: Mitgefühl. Und so nähen und organisieren auf einmal unzählige Wunstorfer privat Gesichtsmasken, um sie anschließend in Einrichtungen mit Engpässen zu verteilen. Tausende dieser waschbaren Baumwollgesichtsbedeckungen wurden schon produziert und z. B. an Altenpflegeeinrichtungen verteilt, die aktuell selbst keine Schutzmasken mehr bekommen.
Auch als die Tafel Wunstorf kurz davorstand, den Betrieb einzustellen, weil keine überschüssige Ware mehr von den Geschäften abgegeben wurde, erreichte sie nach entsprechenden Aufrufen eine Welle der Hilfsbereitschaft, die auch nachwirkt. Der Klein Heidorner Bilsad Ramović etwa schreinert nun Vogelhäuschen gegen Spenden, macht für den Erlös den Kofferraum seines Autos mit Lebensmitteln voll und fährt damit immer wieder direkt zur Tafel. Ebenso wurden diverse Einkaufsdienste von privat oder von Institutionen und Firmen eingerichtet, die kostenlos für die Gefährdeten aus der Risikogruppe den Einkauf übernehmen, so dass diese nicht selbst mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Supermärkte fahren müssen.
Die Ersten, die Masken nähen, waren die Landfrauen. Bettina Knauft wurde Ende März auf die Idee aufmerksam, die der deutsche Hausärzteverband initiiert hatte: das Selbernähen von Masken als Präventionsmaßnahme. Sie griff die Idee auf, eine Sammelstelle einzurichten und das Ganze voranzutreiben. „Nähen kann ich gar nicht“, sagt sie, aber Knauft ist ein Organisationstalent. Sie trommelte weitere Mitstreiter zusammen, holte den Ortsbürgermeister ins Boot und vernetzte sich. Erste Sammelstelle wurde die heutige Zentrale in Idensen, viele weitere Punkte, an denen z. B. Stoffe gespendet werden können, kamen seitdem hinzu. Mitte April waren schon 25.000 Masken genäht und verteilt worden, davon gingen allein über 3.000 über Knaufts Esszimmertisch. Geliefert wird schon längst nicht mehr nur an Einrichtungen in Wunstorf und Umgebung, sondern bundesweit. Da die Masken auch kostenlos unter landfrauen-helfen.de bestellt werden können, kommen Anfragen aus allen Richtungen. Nur das Porto muss der Besteller übernehmen.
Unterstützt wird die Aktion auch von einigen Wunstorfer Handarbeitsbedarfsläden. Die „Stoff und Wollecke“ hatte überdies ohne Kenntnis der Landfrauen-Aktion bereits mit der eigenen Produktion von Behelfsmundschutz begonnen. Anfangs sei sie sehr skeptisch gegenüber selbstgemachten Masken gewesen, sagt Inhaberin Henrike Blöthe. Doch als immer mehr Anfragen kamen, ob sie solche Masken herstellen könne, stieg sie ein in die Produktion von Behelfsmundschutz. Ihre 6 Mitarbeiter nähen seitdem im Home-Office die „Munumas“ genannten Mund-Nasen-Masken. Die ersten bestellten Masken gingen im März an ein Friseurgeschäft und einen Luther Schreibwarenladen.
Was hast du da getan? Henrike Blöthe
Doch beim reinen Verkauf von Masken, die jeder für 6,50 Euro das Stück erwerben kann, sollte es nicht bleiben. Am 22. März rief Blöthe in den sozialen Netzwerken dazu auf, gemeinsam zu nähen, um für Risikopatienten, Praxen oder Pflegedienste kostenlos Masken zur Verfügung stellen zu können. Die Resonanz war ähnlich erschlagend wie bei Bettina Knauft, die seitdem auch von morgens um sieben bis spätabends mit Maskenmanagement beschäftigt ist. Einen knappen Monat später haben allein die „Nähbienen“ um Blöthe, wie sie sich selbst nennen, schon 4.000 Masken geschaffen. Verteilt wurden sie nicht nur in unserer Region, Wunstorfer Behelfsmundschutz wird nun auch am Bodensee oder in Flensburg verwendet. Masken, die bis zum Wochenende nicht direkt verteilt sind, landen wiederum in der Sammelstelle bei den Landfrauen.
Die von uns für diesen Report Befragten sagen fast unisono, dass sie hoffen, dass sich aus der Corona-Pandemie auch etwas Positives ergibt, dass sich die Menschen mehr an scheinbar Alltäglichem erfreuen können, den Alltag mehr zu schätzen wissen, wenn die Geschäfte wieder geöffnet sind und das normale Leben zurückgekehrt ist. Man hofft, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft dadurch wieder wächst und auch gute gemachte Erfahrungen, neue Freundschaften und ein Wir-Gefühl über das Ende von Corona hinaus bestehen bleiben.
Nicht nur beim gemeinschaftlichen ritualisierten Klatschen, um sich selbst Mut zu machen oder Gesundheitspersonal Anerkennung zu zollen, beim Nähen von Masken, auch im ganz Alltäglichen lässt sich das schon jetzt bemerken: Es scheint, als achte man nun stärker auf die anderen – nicht nur auf den Mindestabstand zu ihnen –, man scheint zuvorkommender geworden zu sein. Man lächelt sich an beim Großen-Bogen-Machen umeinander, man bietet sich vorm Supermarkt gegenseitig die freiwerdenden Einkaufswagen an. Oder man bedankt sich einfach viel öfter über scheinbar Selbstverständliches. Fast wirkt es so, als wäre der Weg zu noch größerem Zusammenhalt in Wunstorf und der Welt längst eingeschlagen worden.
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Teil 1: Wunstorf in Krisenzeiten
Teil 2: Die Infizierte
Teil 3: Die Wirtschaft im Ungewissen
Teil 4: Der Mediziner
Teil 5: Stadt und Tourismus
Teil 6: Die Helfer
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Dieser Artikel war Teil der Titelgeschichte in Auepost #8 (Mai 2020)
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