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„Hätte ich heute noch mehr Zeit für meine Schüler aufbringen können?“

29.04.2021 • Redaktion • Aufrufe: 1127

Ein Brandbrief einer Mutter, die mehr Einsatz von den Lehrern fordert – und die Antwort eines Lehrers, wie es gerade wirklich in den Schulen abläuft …

29.04.2021
Redaktion
Aufrufe: 1127
Homeschooling-Debatte

Seit über einem Jahr hält ein Virus die Welt in Atem und hat tiefgreifende Veränderungen in unserer Gesellschaft gebracht. Die Corona-Pandemie hat das Leben aller verändert – aber besonders drastisch das in den Schulen: Von jetzt auf gleich wurde die gesamte Schullandschaft mit wenigen Ausnahmen von einer Präsenz- zu einer Distanzangelegenheit. Es wurde dabei oft improvisiert, hektisch Neues erprobt, vieles sich selbst überlassen. Nicht wenig blieb dabei auf der Strecke. Eltern sehen sich als unfreiwillige Hilfslehrkräfte eingespannt und fordern mehr Einsatz von den Lehrern. Lehrer wissen nicht, wo sie noch mehr Zeit für ihre Schüler hernehmen sollen und hetzen zwischen echter Schule und Videokonferenzen hin und her. Dazwischen die Schüler, die Anerkennung für ihre eigenen Leistungen im teils chaotischen Fernunterricht vermissen und darüber die Motivation verlieren. Wir drucken an dieser Stelle zwei Brandbriefe ab, die die Redaktion erreichten: Ein Brief von Eltern an die Lehrer der Schule ihres Kindes – und die stellvertretende Replik eines Lehrers für das gesamte Kollegium.

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Brief einer Wunstorfer Mutter

Homeschooling
Symbolbild

Wir möchten Ihnen vor den nun anstehenden Ferien noch eine kurze Rückmeldung zu den letzten Wochen Schule zuhause abgeben. Unser Kind ist immer sehr bemüht gewesen, alle Aufgaben gewissenhaft und pünktlich abzuliefern. In der letzten Zeit bricht es allerdings merklich ein. Die Fülle der Aufgaben ist oft nur noch durch unsere Hilfe als Eltern machbar. Es verliert den Überblick und darüber auch die Motivation. Die letzte Zeit hinterlässt nun doch langsam deutliche Spuren. Diese Gruppe Schulkinder ist, wie wir finden, nicht mehr auf dem politischen Radar und mittlerweile abgehängt. Seit Mitte Dezember sind sie nun isoliert und ohne jegliche Perspektive. Unser 11-jähriges Kind ist das einzige in unserer Familie, für das es nicht im Ansatz einen Alltag außerhalb seines Zuhauses gibt. Jeder von uns muss oder kann los, und wenn es auch nur tageweise unterhalb der Woche ist … Ich würde mir wünschen, dass Sie ein wenig mitfühlender auf die besondere Situation dieser Altersgruppe eingehen und den Kindern mehr Angebote machen könnten, sich auszutauschen, wie es ihnen gerade geht, anstatt den Fokus weiterhin auf die zu erfüllenden Aufgaben zu legen. Schule ist nicht nur Pflichterfüllung, sie ist eigentlich so vieles mehr. Und dieses Mehr findet gerade einfach nicht statt! Wie wäre es mal mit einem Klassentreffen auf dem Sportplatz, mit Abstand und Maske? Ein kleines Wiedersehen, wenigstens einmal wöchentlich. So etwas müsste doch möglich sein?! Dass die Kinder ein kleines Ziel in der Woche haben, sich für eine Stunde und einen kleinen Austausch im „echten Leben“ treffen und nicht vor dem PC in der digitalen Welt. Das würden wir uns wünschen, für unser Kind und all die anderen gerade vergessenen Kinder. Wir hoffen auf Ihr Verständnis für diese Zeilen. Wir stecken gerade alle fest, das wissen wir natürlich auch, aber wir sehen auch unser Kind, welches immer einsamer und trauriger wird.
Ganz herzliche Grüße von den zunehmend besorgten Eltern eines 11-jährigen Schülers in Wunstorf.

Antwort eines Lehrers

Lehrer
Symbolbild

Stellen Sie sich vor, Sie wären routinierter Zahnarzt. Eines Tages tritt der Chef der Praxis zur Tür herein, trägt den Behandlungsstuhl heraus und nimmt gleich noch ein paar der wichtigsten Instrumente mit. Beim Hinausgehen sagt er über die Schulter: „Kommen Sie ja nicht auf den Gedanken, unsere Patienten nun auf niedrigerem Niveau zu behandeln!“ Im halb leeren Behandlungszimmer stehend, denken Sie: „Na ja, sicherlich kommt er gleich mit einem einfachen Stuhl zurück. Vielleicht sogar moderneren Instrumenten?“ Weit gefehlt, der Raum bleibt leer. Es wird von Ihnen erwartet, dass Sie sich selbstständig um Lösungen bemühen. Natürlich geben Sie sich alle Mühe, werden kreativ. Ihre Patienten aber sind selbstverständlich empört. Sie machen Ihnen Vorwürfe, wie es denn sein könne, auf einmal auf diesem wackeligen Witz von einem selbstgebauten Hocker behandelt zu werden und am Ende die Praxis – nicht fertig behandelt – mit Schmerzen wieder verlassen zu müssen. Der Chef kommt alle drei bis vier Tage mit neuen Vorgaben vorbei: „Behandlungen müssen nun ausschließlich mit der linken Hand getätigt werden.“ „Alle Termine der Woche finden in der umgekehrten Reihenfolge statt – Sie informieren bitte die Patienten.“ Oder auch: „Die Temperatur des Behandlungszimmers darf 5,3 °C nicht übersteigen.“ Dieses Gedankenspiel ist überzeichnet, doch Lehrer an einer niedersächsischen Schule befinden sich seit einem Jahr in einem ähnlichen Spagat aus teils absurden Gegensätzen. Der momentane schulische Alltag sieht folgendermaßen aus:

Wie „früher“ Aufstehen zur 1. Stunde. E-Mail-Postfach geöffnet – 19 Mails, 10 davon verlangen eine Antwort. Man öffnet sein Onlineportal wie iServ zur ersten Schulstunde mit einer Videokonferenz mit einem 12er-Grundkurs. Die meisten sind anwesend, jedoch fast alle erschöpft von ihrer 62. Onlinekonferenz diesen Monat. Anschließend geht es auf den Weg zur Schule, um für 45 Minuten eine 10. Klasse zu unterrichten. Die bereiten sich gerade auf ihre Abschlussprüfungen vor. Da die andere Hälfte der Klasse im Homeschooling ist, muss noch der „Hybridunterricht“ vorbereitet werden. Super, es sind immerhin 7 der 15 Homeschooling-Schüler anwesend. Für den Rest muss man also später nochmal eine Mail mit den wichtigsten Infos verschicken. Für den eigentlichen Unterricht ist jetzt nicht mehr viel Zeit, da auch die Übertragung der Videokonferenz mehrfach gehakt hat. Was nächste Woche mit dem eigentlichen Unterricht ist, wenn man mit der gesamten Gruppe den Selbsttest durchführen soll …
Immerhin haben heute nicht alle im Klassenraum in Decken umwickelt gefroren, die Temperaturen sind wieder in die Plusgrade geklettert. In zweieinhalb Stunden findet die nächste Konferenz statt. Schnell nochmal drei weitere Mails an die Schüler des 12er-Kurses vom Morgen geschrieben, da sie schon das zweite Mal hintereinander gefehlt haben. Auch die Mail an die fehlenden Schüler aus der zehnten Klasse darf nicht fehlen. Zwischendurch ist kurz Zeit für einen Schnack mit der Kollegin, wie viele Kinder sie aus ihrer sechsten Klasse gerade kaum noch erreicht. Nun schnell nach Hause, um sich kurz um die kleine Tochter zu kümmern. Spruch vom Homeoffice-Nachbarn vor der Haustür: Ob es das mit dem Arbeitstag schon wieder bei den Lehrern gewesen sei.
Zeit für die Tochter ist nicht mehr drin. Die 8. Klasse sitzt bereits online in den Startlöchern. Man sieht die teils übermüdeten Gesichter, teils aber auch nur Namen in der Liste, da nicht alle eine funktionierende Kamera besitzen. Im Anschluss muss den beiden 5. Klassen, der anderen 8. Klasse und der 11. Klasse, die man alle unterrichtet, noch Rückmeldung zu ihren hochgeladenen Aufgaben gegeben werden.
15 Uhr. Schriftliche Rückmeldungen unterbrechen und wieder Videokonferenz. Zeit für das wöchentliche Treffen mit der 8. Klasse, ich bin Klassenlehrer. Wieder sind dieselben 7 Schüler nicht da. Bei einem Schüler ist der PC kaputtgegangen und er kann nur noch mit dem Smartphone arbeiten. Danach Telefonate. Von 7 fehlenden Schülern erreicht man 4. Alle behaupten, es vergessen zu haben. Von den anderen erreicht man zumindest die Eltern.
16.30 Uhr. Das Material für den Onlineunterricht der 12. Klasse morgen muss noch vorbereitet werden. Eine Mail der Schulleitung, dass die Aufhebung der Präsenzpflicht entgegen der vorgestrigen Ankündigung, die man sofort an die Eltern seiner Klasse weitergeleitet hat, doch wieder zurückgenommen wurde. Neue Mail an alle Eltern mit Nachfragen retour. Die eigene Familie wartet auf den Papa, um mit den Kindern zu spielen. Das Material für morgen ist nicht fertig geworden. Da muss man wohl abends nochmal ran, wenn die Kinder im Bett sind – oder vielleicht am nächsten Tag ein bisschen improvisieren.
Man selbst hat viele Kinder in seinen Klassen, die es teils von Anfang an unglaublich schwer hatten, seitdem die Schulen nicht mehr offen haben. Und bei vielen Kindern geht es an Problemen weit über fehlende Motivation hinaus. Man lässt seinen Tag Revue passieren und überlegt sehr ernst: hätte ich heute noch ein bisschen mehr Zeit für meine Schüler aufbringen können? War ich unkreativ? War ich vielleicht nicht engagiert genug?

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