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Aus dem Kriegsgebiet in die neue Heimat Wunstorf

04.03.2020 • Daniel Schneider • Aufrufe: 817

Wie leben eigentlich Flüchtlinge in unserer Stadt? Wieso haben sie sich Deutschland als Ziel ausgesucht und was haben sie auf ihrer Flucht erlebt? Zu Besuch bei drei syrischen Flüchtlingen in Wunstorf und dem Wohnheim am Luther Weg.

04.03.2020
Daniel Schneider
Aufrufe: 817

Wie leben eigentlich Flüchtlinge in unserer Stadt? Wieso haben sie sich Deutschland als Ziel ausgesucht und was haben sie auf ihrer Flucht erlebt? Zu Besuch bei drei syrischen Flüchtlingen in Wunstorf.

Flucht aus Syrien

Knapp 2 % der Wunstorfer sind Flüchtlinge. Alle reden über sie, aber wirklich Bescheid weiß kaum jemand, was es bedeutet, als Geflüchteter in Wunstorf zu leben und eine gefährliche Reise überstanden zu haben. Mit drei von ihnen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen sind, haben wir gesprochen. Sie sind nicht wegen des Geldes nach Deutschland gegangen, im Gegenteil: sie haben Tausende Euro bezahlt, um überhaupt ankommen zu können. Ihre Wege waren dabei sehr unterschiedlich, und auch der Alltag heute in Wunstorf fällt sehr verschieden aus. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie hier Sicherheit und die Hoffnung auf eine neue Zukunft gefunden haben.

Delbrina

Delbrina

Delbrina mit einer ihrer Töchter | Foto: Daniel Schneider

Eine von ihnen ist Delbrina Ahmed. Die 38-jährige Mutter von sieben Kindern – drei Mädchen und vier Jungen – hat eine regelrechte Fluchtodyssee hinter sich, mit vielen Zwischenstationen und Irrwegen, bis sie es endlich nach Deutschland schaffte. Wäre sie bei der Geburt ihrer jüngsten, jetzt siebenjährigen Tochter schon hier gewesen, hätte der Bundespräsident die Patenschaft übernommen. Doch Delbrina lebt erst seit zwei Jahren in Wunstorf.

Wir besuchen sie in ihrer Wohnung in Großenheidorn, wo sie derzeit noch mit sechs ihrer Kinder – die älteste Tochter hat bereits geheiratet und ist nach Hannover gezogen – lebt. Sie wohnt in einer von der Stadt angemieteten Wohnung in einem alten Bauernhaus direkt neben der Dorfkirche. Es riecht nach Holzheizung, und fast finden wir die Wohnung nicht, die sich hinter einer Tür verbirgt, die eher zu einem Kellereingang passen würde. Dahinter versteckt sich jedoch eine lange Treppe, die in den ersten Stock zu einer lichtdurchfluteten großen Wohnung führt. Einen schönen Balkon gibt es und ein fensterloses, aber top modernisiertes Badezimmer. Die Kargheit fällt sofort ins Auge, im Verbindungsflur zwischen den Zimmern, der als Wohnzimmer dient, stehen nur ein altes Sofa und zwei Sessel, dazwischen liegt ein flauschiger, aber zu kleiner Teppich, sonst nichts. Die Wände sind kahl. In der darauffolgenden Woche will Delbrina mit ihrer Familie nach fast 2 Jahren in Großenheidorn umziehen, raus aus der dortigen Wohnung in eine kleinere, aber billigere in der Kernstadt. Von den knapp 1.000 Euro im Monat, die sie und ihre Kinder als Sozialleistung erhalten, gehen 400 Euro für die Miete ab, weil die Wohnung zu groß ist. Ohne Kindergeld käme sie nicht über die Runden. Großenheidorn ist ihr außerdem zu ruhig, und für Besorgungen und die Aktivitäten der Kinder ist sie immer auf den Bus angewiesen.

Auf einmal Witwe

Mit ihrem Mann und den Kindern sei sie 2012 in Syrien aufgebrochen, um dem Bürgerkrieg zu entgehen, erzählt sie. Deutsch hat sie bis auf wenige Wörter nicht gelernt, ihre Muttersprache ist Kurdisch. In Syrien hatte sie mit ihrer Familie in Damaskus gelebt. Von Anfang an war ihr Fluchtziel Deutschland, denn hier lebte bereits weitere Verwandtschaft. Zu neunt waren sie aufgebrochen, am Ende der Flucht waren sie noch zu acht. Zunächst floh Delbrinas Familie in den Irak, wo sie ganze vier Jahre lang in einem Flüchtlingscamp lebten. Als ihr Mann dort nach neun Monaten Aufenthalt einen Schlaganfall erlitt, gab es keine medizinische Hilfe. Er starb 42-jährig.

Flüchtlingsheim-Türschild

Ein Schmetterling im Flüchtlingswohnheim | Foto: Daniel Schneider

Knapp drei weitere Jahre blieb Delbrina im Camp, dann organisierte sie mit Hilfe eines Schleppers ihre Flucht mit allen Kindern weiter in die Türkei. An der Grenze wurde sie abgefangen und in den Irak zurückgeschickt. Beim zweiten Anlauf gelang ihr dann der Grenzübertritt, nun wurde sie festgenommen. Sie kam in ein Auffanglager, in dem schon etwa 500 andere Flüchtlinge waren. Alle Habseligkeiten wurden konfisziert, den Menschen Taschen, Handys und Pässe abgenommen. An den Händen gefesselt, mussten sie drei Stunden stehen, dann wurden sie einzeln verhört, berichtet Delbrina. Anschließend seien alle eine Nacht im Freien geblieben, bei Schnee und Regen. Anderntags bekam sie ihr Handy zurück, aber ohne die SIM-Karte. Die türkischen Behörden wollten ermitteln, wer ihre Fluchthelfer waren und auf welchem Wege sie in die Türkei gelangt war.

Eine Decke war Glückssache

Nun wurde sie mit den anderen zu einem alten ehemaligen Krankenhaus geführt, das als Unterkunft diente. 14 Tage sei sie dort unter schlimmsten hygienischen Zuständen gewesen. Es sei schmutzig gewesen, überall waren Mücken. Zu essen bekamen sie Wasser, Linsen und Nudeln. Kindernahrung für die Kleinsten durfte nicht mitgenommen werden. Nach den zwei Wochen wurde sie mit ihren Kindern in eine Sporthalle gebracht. Etwa 1.500 andere Familien waren dort bereits untergebracht, sagt sie, getrennt nach Männern und Frauen. Die hygienischen Zustände waren etwas besser, doch sie durften nur zwei Decken haben: eine zum Drauflegen auf dem freien Boden, eine zum Zudecken. Manche schliefen auch auf den Zuschauerstühlen in der Halle. Wenn weitere Flüchtlinge nachkamen, wurden die bereits anwesenden von den Sicherheitskräften kollektiv bestraft, berichtet sie. Dann wurden ihnen auch noch die Decken weggenommen. In dieser Lage nahm sie Kontakt zu ihrem Bruder auf, der bereits seit 2010 in Deutschland lebte. Er organisierte die weitere Flucht. Eines Tages kam ein Mann ins Lager, sagte: „die gehören zu mir“ – und nahm Delbrina und ihre Kinder mit zu sich nach Hause. Sie konnten erstmals seit langem wieder duschen und richtig essen.

Wieder in den Händen der Polizei

Wenig später wurden sie und ihre Kinder mit 15 weiteren Menschen in einen Van gepfercht und zu einem leerstehenden Haus gefahren. Hier kamen auf dieselbe Weise immer mehr Flüchtlinge an, bis es schließlich 300 waren. Sie alle sollten am Ende in ein einziges kleines Boot passen, um die Überfahrt nach Griechenland zu wagen. Zurück in den Vans, ging es dann auf die stundenlange Fahrt an die türkische Küste bei Izmir. Dann wurden sie in Gruppen aufgeteilt, um in einem Schlauchboot nacheinander zu einem kleinen Schiff gefahren zu werden. Die erste Gruppe erreichte das Boot, doch beim zweiten Mal kenterte das Schlauchboot, die Menschen fielen ins Wasser. Delbrina blieb mit ihrer Gruppe bis zum nächsten Tag weiter am Ufer, doch dann wurden sie entdeckt, eine weitere Flucht war unmöglich. Nun kam die Familie bei der Schwester eines Fluchthelfers unter – und es kam zum Streit, weil sie erneut zahlen sollte. Dabei hatte der Mann bereits 1.800 Euro von ihr erhalten. Und er blieb nicht der Einzige. Jeder neue Akteur in der Fluchthelferkette hielt wieder die Hand auf. Am Ende sollte Delbrina über 5.000 Euro für ihre Flucht bezahlt haben. Das Geld, das ihr Bruder aus Deutschland aufbrachte, zahlt sie noch heute in Raten an ihn zurück.

[box type=“info“ align=““ class=““ width=““]INFO: Flüchtlinge in Wunstorf
745 Flüchtlinge aus 21 Nationen leben aktuell in Wunstorf.
166 Wohnungen hat die Stadt zur Flüchtlingsunterbringung angemietet.
59 derzeit noch freie Plätze in Wohnungen und Heimen werden demnächst wieder belegt.[/box]

Delbrina wurde dann in einer kleinen, extra für sie angemieteten Wohnung untergebracht, und ihr wurde gesagt, dass sie noch eine weitere Woche warten müsse, weil das Wetter nun zu schlecht sei für eine Überfahrt. Doch schon nach drei Tagen ging es wieder los, mit 26 anderen nahm die Familie diesmal in einem Schnellboot Platz und gelangte so sicher zum Schiff. Es war ihre letzte Chance gewesen. Wenn es diesmal nicht geklappt hätte, hätte sie der Fluchthelfer im Stich gelassen.

Den Sohn fast ans Mittelmeer verloren

Die nächtliche Überfahrt nach Griechenland verlief unentdeckt, aber sie kamen überstürzt auf einer kleinen Insel an. Sie stieg mit ihren Kindern aus, nur ihr Sohn Achmed blieb noch auf dem Boot, weil er als Nichtschwimmer Angst vor dem Wasser hatte. Der damals Zwölfjährige klammerte sich weiter an einem Tau am Boot fest. Der Steuermann bemerkte es nicht, und schleifte Achmed mit, als er wieder ablegte. Der Junge konnte sich nicht mehr halten und ging unter. Alle suchten nach ihm, konnten ihn jedoch nicht mehr entdecken. An Land, die nächsten Häuser standen nicht weit, riefen die Flüchtlinge um Hilfe. Delbrina wollte selbst ins Wasser gehen, aber ihre älteren Kinder und Mitflüchtlinge ließen das nicht zu, erzählt sie mit festem Blick. Vier jugendliche Flüchtlinge tauchten stattdessen nach Achmed. In diesem Moment trafen die griechischen Rettungskräfte ein, und in deren Scheinwerfern entdeckte Delbrina die orangefarbene Weste ihres Sohnes. Helfer zogen den bewusstlosen Achmed aus dem Wasser und begannen mit Erste-Hilfe-Maßnahmen. Er wurde beatmet und kam nach einigen Minuten wieder zu sich.

Gemeinschaftsküche

Gemeinschaftsküche im Flüchtlingswohnheim | Foto: Daniel Schneider

In Griechenland wurden sie anfangs viel besser behandelt, erzählt Delbrina. Es herrschte ein respektvoller Ton, ihnen wurde geholfen. Doch die Afghanen unter den Flüchtlingen wurden gleich wieder auf ein Schiff gebracht und abgeschoben, und auch die syrischen oder irakischen Flüchtlinge kamen auf ein Schiff, das sie aber nach Athen in ein Flüchtlingslager fuhr. Hier waren sie eine von 300 Familien, die in Zelten lebten. Das nächste Dorf lag eine halbe Stunde entfernt. Hilfe gab es kaum, finanzielle Unterstützung keine. Es kam zu Unruhen und gewalttätigen Auseinandersetzungen im Lager. Es seien schlimme Sachen passiert, erzählt Delbrina, ohne ins Detail zu gehen. Fast zwei Jahre lebte sie so in Griechenland. Ihre Kinder schützte sie, indem sie sie immer nah bei sich im Zelt behielt. Sie hielten eng zusammen.

Nach 7 Jahren endlich in Deutschland

Das Rote Kreuz verbesserte die Situation etwas, baute feste Hütten, doch die Flüchtlinge begannen gegen die Lebensbedingungen zu demonstrieren. Einige wurden daraufhin abgeschoben, andere tauchten unter. Von den ursprünglich 300 Familien war am Ende nur noch ein Drittel übrig, und Delbrina und ihre Familie gehörten zu den Letzten, die das Lager verließen. Denn irgendwann erfuhr sie davon, dass sie einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen konnte, was ihr den Weg nach Deutschland freimachte. Nach zwei Monaten wurde ihr Antrag bewilligt, und sie durften ins Flugzeug nach München steigen. Über einen Umweg nach Garbsen kamen sie in die Erstaufnahmeeinrichtung in Braunschweig und schließlich, bevor sie ihre jetzige Wohnung bezogen, vier Monate lang ins Flüchtlingswohnheim am Luther Weg. Zu acht belegten sie dort zwei Zimmer.

Abdulrazzak

Abdulrazzak

Abdulrazzak mit seinen Jungs | Foto: Mirko Baschetti

Auch Abdulrazzak Al Hussein kennt das Wohnheim gut. 5 Monate lebte er dort nach seiner Ankunft in Wunstorf. Der 43-Jährige lebt mit seiner Familie inzwischen jedoch in der Nordstadt. Zu siebt bewohnen sie eine 6-Zimmer-Wohnung: Vater, Mutter, zwei Töchter und drei Söhne. Er öffnet uns die Tür und bittet uns mit einem sanften Händedruck herein ins Haus, das gerade einer Baustelle gleicht. Wegen Schimmelbildung sind Kernbohrungen gesetzt, überall brummen Trocknungsgeräte. Nur die Küche und das Wohnzimmer sind aktuell noch benutzbar. In Letzteres werden wir zum Gespräch gebeten. Mit dabei sind seine jüngeren Söhne. Die Einrichtung hat orientalischen Charakter, die Vitrine glitzert golden. An der Wand hängt das islamische Glaubensbekenntnis.

2015 sei er mit seiner Familie aus Syrien in die Türkei geflohen. Seine Heimatstadt ist Hasaka in Nordsyrien. Die Region versank im Krieg, alles sei kaputt, sagt er. Sein Ziel war Deutschland. Warum Deutschland, wollen wir wissen. „Demokratie“, sagt er, ohne zu zögern. Aber auch die bereits große kurdisch-syrische Community hierzulande spielte eine Rolle. Sein Hauptantrieb waren dabei seine Kinder: Sie sollten auf die Schule gehen können, in Sicherheit sein. In der Türkei musste sogar sein jüngster Sohn beim Arbeiten helfen.

„In Wunstorf ist es besser“
Abdulrazzak

Doch die weitere Flucht unternahm er allein. Zu gefährlich erschien ihm die Überfahrt auf dem Mittelmeer mit Frau und Kindern. Sie blieben allein bei seiner Schwägerin in der Türkei. Abdulrazzak selbst stieg trotz großer Angst – er ist Nichtschwimmer – gemeinsam mit 47 anderen Menschen bei Izmir ins Schlauchboot Richtung Griechenland. Viele Syrer, Afghanen und Afrikaner seien mit ihm im Boot gewesen. Es war eng, Wasser schwappte dauernd herein. Persönliche Dinge konnte er nicht mitnehmen, er ließ alles zurück. 1.000 Euro zahlte er an die Schlepper. Nach zweieinhalb Stunden Bootsfahrt, nur mit einer Schwimmweste über der Kleidung, erreichte er um 2 Uhr in der Nacht griechischen Boden. Weiter ging es über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland. In zwei Wochen legte er die Strecke zurück. Über Braunschweig landete er zunächst in Salzgitter, später kam er nach Wunstorf, weil hier bereits sein Schwager lebte.

Erstausstattung für Flüchtlinge

Erstausstattung für Flüchtlinge im Wohnheim | Foto: Daniel Schneider

Sehr schwer sei es für ihn gewesen, die Familie zurückzulassen, erzählt er. Zwei Jahre lang waren sie getrennt, dann konnte er sie 2017 endlich nach Deutschland nachholen lassen. Die Diakonie half bei der Familienzusammenführung. Frau und Kinder kamen mit dem Flugzeug. Zuvor hatte er jeden Monat 200 Euro an sie in die Türkei geschickt. Sie zogen zu ihm ins Wohnheim im Luther Weg, doch kurz darauf fand Abdulrazzak die Wohnung in der Nordstadt. Sie gehört einem Kurden. Vor allem die Kinder waren froh, das Wohnheim verlassen zu können. Sie vermissten Privatsphäre. Anfangs seien sie noch zur Tafel um die Ecke gegangen, inzwischen nicht mehr. Auch aus ihrem Bekanntenkreis unter Flüchtlingen sei niemand darauf angewiesen, Geld für Kleidung und Essen ist genug da. Viele gingen trotzdem, um zu sparen.

Die Kinder haben große Ziele, die Eltern kleine

Die Jungs haben ehrgeizige Ziele: Zahnarzt, Pilot oder Apotheker wollen sie später einmal werden. Abdulrazzak geht derzeit weiter zur Sprachschule, er will den Abschluss B1 erreichen. Die Sprache ist schwer. Seine Kinder sprechen bereits fließend Deutsch. Innerhalb der Familie sprechen sie Arabisch, mit den Nachbarn Kurdisch, und über die Kinder neuerdings auch manchmal Deutsch. Der Kontakt zu Deutschen, um die Sprache besser zu lernen, fehlt ihm jedoch. In Syrien war er LKW-Fahrer, nun möchte er Bus fahren, doch er hat bislang nur den Führerschein Klasse B. Sein Deutsch reicht noch nicht für den Busführerschein. So bringt er die Kinder täglich mit dem Auto zur Otto-Hahn-Schule und parkt dann am Bahnhof, um mit dem Zug weiter zum Sprachkurs nach Hannover zu fahren. Seine Frau verstehe gut Deutsch, spreche es aber nicht, sagt er. In der Freizeit fahren sie nach Hannover, im Sommer Boot auf dem Steinhuder Meer.

„Ich bleibe hier für die Kinder“
Abdulrazzak

Die Frauen des Hauses bekommen wir nicht zu Gesicht. Die Mädchen würden schlafen und seine Frau kochen, sagt Abdulrazzak entschuldigend. Nur die Söhne sollen mit aufs Foto. Ebenfalls nur die Männer des Hauses gehen regelmäßig in die Wunstorfer Moschee, Ehefrau und Töchter bleiben zu Hause, außer an Ramadan.

Es seien nette Menschen in Wunstorf, er hätte sich hier stets willkommen gefühlt. Fremdenfeindlichkeit habe er in Wunstorf nie erfahren, sagt Abdulrazzak, aber dafür seine Kinder. In der Schule wurden sie gehänselt. „Scheiß Flüchtlinge, geht nach Hause, wir brauchen euch nicht“ bekamen sie zu hören – aber nicht von deutschen Schülern, sondern anderen Flüchtlingskindern, die schon länger in Wunstorf waren. Der Vater ging in die Schule, sprach mit der Rektorin und klärte die Angelegenheit. Seitdem ist nichts mehr vorgefallen. Die große Schwester und seine Ehefrau haben jedoch als Kopftuchträgerinnen öfters Probleme: Sie fühlen sich nicht wohl, da sie schräg angesehen würden und gelegentlich gehässige Kommentare hörten.

Mohamad

Mohamad

Mohamad arbeitet inzwischen als Fahrer für Amazon | Foto: Mirko Baschetti

Das Gesicht von Mohamad Al Hassani könnte dem ein oder anderen Wunstorfer bekannt sein, denn er arbeitete in den letzten beiden Jahren als Servicekraft im Eiscafé Martino. Und auch an der eigenen Haustür kann man ihn bald klingeln sehen, denn er hat gerade seinen Arbeitsplatz gewechselt und fängt nun als Fahrer beim neuen Amazon-Verteilzentrum an. In seiner Freizeit geht er ins Fitnessstudio.

Er spricht Arabisch – und inzwischen gut Deutsch. Einen Sprachkurs hat er jedoch nie besucht, er brachte sich alles selbst bei in den letzten Jahren. Der Kontakt zu deutschsprachigen Freunden und der Job halfen ihm dabei. Einen Kurs hätte er als unsinnig empfunden und bestätigt damit die Erfahrungen von Delbrina: Dort würde man nur „ein bisschen“ Deutsch lernen, denn in diesen Kursen würde meist „alles andere gemacht“, als wirklich die Sprache zu lernen.

Seine Reise begann vor vier Jahren, 2015 brach er von seiner Heimatstadt Deir ez-Zor in Ostsyrien auf. Anders als Delbrina und Abdulrazzak war Deutschland nicht sein ursprüngliches Ziel. Er wollte in die Niederlande, weil man ihm gesagt hatte, dass es dort gut sei. Doch der 23-Jährige fühlte sich dort nicht wohl, fand keine Kontakte, und so ging er zurück nach Deutschland.

Er hat von allen dreien den zeitlich kürzesten Fluchtweg zurückgelegt: Insgesamt 21 Tage war er unterwegs, davon waren 14 Tage Zwischenstation in der Türkei. Auch er setzte von der Türkei nach Griechenland über, zusammen mit 39 anderen in einem Kleinboot, und auch er wählte die sogenannte Balkanroute. Oft war er zu Fuß unterwegs. Er verließ Syrien gemeinsam mit seinem Bruder, der heute ebenfalls in Wunstorf lebt. Seine übrige Familie blieb in Syrien. 5.000 Euro zahlte Mohamad an Fluchthelfer, die er noch immer abstottert.

Eine Zukunft in Wunstorf?

Eine Zukunft in Wunstorf wünschen sich eigentlich alle, sie wollen bleiben. Abdulrazzak ist es nicht wichtig, wo er lebt. Nur nach Syrien will er nicht zurück. „Ich habe dort keine Wohnung“, sagt er nüchtern auf die Frage, ob er Heimweh nach Hasaka hat. Er würde stets dort bleiben, wo auch seine Kinder sind. Delbrina kann sich eine andere Heimat als Wunstorf jedoch schon nicht mehr denken, sie will bleiben. Nur Mohamad kann sich vorstellen, irgendwann wieder nach Syrien zu gehen, wo noch seine engere Verwandtschaft lebt. Doch solange dort Krieg und Perspektivlosigkeit herrscht, wird er sein Leben in Wunstorf leben. Ob er gern auch in eine andere deutsche Stadt ziehen würde, fragen wir. Er schüttelt den Kopf.

Delbrinas Sohn Achmed hat sein traumatisches Erlebnis und die Angst vor Wasser überwunden und mittlerweile in Wunstorf einen Schwimmkurs absolviert.


Diese Reportage war Titelgeschichte in Auepost 11/2019.

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