Wunstorf (as). Es ist eine bewegende Stunde der Herzlichkeit, der Erinnerungen und der Bekenntnisse zu Europa, zur französisch-deutschen Freundschaft und zum friedlichen Nebeneinander der Völker. Die alte Kirche mitten in der Innenstadt ist mit fast 100 Besucherinnen und Besuchern voll besetzt, von der Empore lässt das Orchester der Musikschule eine französische Version von Leonard Cohens „Halleluja“ erklingen.
Bürgermeister Carsten Piellusch – es ist ein Empfang der Stadt und des Partnerschaftsvereins – trägt zur Feier des Tages seine Amtskette und erweist den französischen Gästen noch auf andere Art die Ehre: Er hält seine Rede zweisprachig, wechselt mühelos ins Französische. Das hat er einst in der Scharnhorstschule gelernt und in Brüssel verfeinert, als er für die EU-Kommission gearbeitet hat. Viermal war er bereits in Flers, auch mit Familie. Als allgemeiner Vertreter des Bürgermeisters und Kulturdezernent der Stadt war die Partnerschaft für ihn eine wichtige Aufgabe.
Piellusch erinnert daran, wie die Beziehungen zu Flers entstanden sind, würdigt die Rolle des Lehrer-Ehepaares Susi und Horst Boese, schildert die schrittweise Erweiterung vom Schüleraustausch zur Städtepartnerschaft. Wie um die Art zu unterfüttern, wie er die Beziehungen pflegt, zitiert Piellusch den früheren französischen Präsidenten Francois Hollande: „Freundschaft erben wir nicht, wir müssen sie immer wieder erneuern.“ Er nutzt die Gelegenheit auch, für die massive Unterstützung der Ukraine zu plädieren. Die Diplomatie sei gefordert, sagt Piellusch. Aber auch finanzielle, humanitäre und militärische Mittel müssten mobilisiert werden.
Flers ist eine Gemeinde mit etwa 15.000 Einwohnern im Département Orne in der Normandie. Bekannt ist eine alte schlossartige Burg, Betriebe der Textil- und der Lebensmittelindustrie prägen die lokale Wirtschaft. Bekanntester Sohn des Ortes ist Guy Mollet, der 1956 ein gutes Jahr lang französischer Ministerpräsident war. Von 1946 bis 1969 war er Parteichef der französischen Sozialisten, so lange wie kaum ein anderer. Eine halbe Autostunde entfernt liegt La Ferté-Macé, die Partnerstadt von Neustadt. Auch dort ist in diesen Tagen eine Abordnung zu Gast.
Wie der Bürgermeister hatte zuvor Manfred Forreiter die Gäste in deutscher und französischer Sprache begrüßt. Der Vorsitzende des Partnerschaftsvereins dankte allen, die sich von der Pandemie nicht abschrecken ließen, die Kontakte zu pflegen: „Le jumelage est vivant.“ (Die Partnerschaft lebt.) Einzelne und Gruppen hätten die Beziehungen auch in Krisenzeiten mit Leben erfüllt, aber mancher könne aus Altersgründen nicht mehr reisen. Eine „solide Partnerschaft“ nennt Yvette Lerichomme die jahrzehntealte Verbindung. Die Repräsentantin der Stadt Flers vertritt den Bürgermeister, der im Wahlkampf steht. Sie würdigt die Wunstorfer Geste, den Platz zwischen Stadtkirche, Stadtsparkasse und Abtei nach der Partnerstadt zu benennen, und wird grundsätzlich: Mehr denn je müsse Europa zusammenhalten, mehr denn je seien Deutschland und Frankreich gefordert, zusammenzustehen.
Ihre kurze Rede wird von Elita Brandes übersetzt, Forreiters Vorgängerin. Sie steht auch Rolf Herrmann zur Seite, der die Stiftung Rotes Lehmhaus leitet und später die Ausstellung von ausgewählten Karikaturen zum deutsch-französischen Verhältnis in der Abtei eröffnet. „Immer ein Vergnügen“ ist es für Jean-Marc Chevallier, Forreiters Pendant in Flers, nach Wunstorf zu kommen: „Das ist ein wunderbares Wiedersehen.“ Der Empfang klingt aus mit dem lebhaften Grußwort von Etienne Lambert. Gestenreich und bewegend beschreibt der Lehrer, wie sich die jungen Franzosen und Deutschen beim Austausch näherkommen und ihre Zurückhaltung schnell ablegen. Lambert ist der Sohn des früheren Bürgermeisters von Flers, der in beiden Städten als einer der Initiatoren der Partnerschaft gilt. Drei Jahre lang hätten seine Schülerinnen und Schüler nun Deutsch gelernt, und: „Nächstes Jahr kommen wir!“
Das weitere Programm: ein Konzert der beiden Musikschulen, eine „Grande Soiree“ , beides in den Steinhuder Strandterrassen, ein Rundgang in Hildesheim, ein Besuch der Marienburg und viele private Termine und Treffen.
Sie müssen überredet werden: Susi und Horst Boese halten sich zurück beim Empfang für die französischen Gäste. Das Lehrer-Ehepaar aus Steinhude möchte nicht im Vordergrund stehen: „Wir gehören doch nicht mehr richtig dazu …“ Schließlich erzählt Boese im Gespräch mit der Auepost aber doch, wie alles angefangen hat. 1985 sei er von einem hannoverschen Kollegen gefragt worden, ob er den Aufbau eines Schüleraustauschs mit Flers für möglich halte. Die Schulleitung um Siegfried Kröning und das Kollegium der Scharnhorstschule seien aufgeschlossen gewesen, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Aus den gegenseitigen Schülerreisen wurde im Lauf von fast zehn Jahren ein Freundschaftsvertrag, in Flers besonders befördert von Bürgermeister Michel Lambert. 1994 wurde das Dokument feierlich unterzeichnet. Boese verschweigt nicht, dass der Wunsch in Flers sehr ausgeprägt gewesen sei. Im Wunstorfer Rat sei die Zurückhaltung deutlich spürbar gewesen. Es sei nicht einfach gewesen, dem damaligen Bürgermeister Friedhelm Meine die Idee schmackhaft zu machen, und in den beiden großen Fraktionen sei befürchtet worden, „das kostet viel Geld“.
Wer in die französische Stadt reise, werde von der Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen dort geradezu übermannt. In Wunstorf aber sei die Skepsis zunächst geblieben. Erst Meines Nachfolger Harald Brandes, erinnert sich Boese am Rand der Karikaturen-Ausstellung, habe der Idee eine Wende gegeben und die Sache selbst in die Hand genommen. Boese, damals auch Vorsitzender des Partnerschaftsvereins, ist mit Brandes nach Flers gereist, und am 25. Mai 1996 ist der Partnerschaftsvertrag zwischen den beiden Städten besiegelt worden. Schüleraustausch – Freundschaftsvertrag – Partnerschaftsvereinbarung: eine 26-jährige Geschichte mit vielen Begegnungen, vielen persönlichen Freundschaften, vielen Erinnerungen und Bindungen.
Obwohl keine Französischlehrkraft an der Scharnhorstschule, hatte ich insgesamt dreizehnmal kollegiale Übernachtungsgäste aus Flers bei mir im Haus. Einmal habe ich selbst den Schüleraustausch nach Flers begleitet. Was für menschliche Bereicherungen!
Während mein verstorbener Vater als Besatzungssoldat der Wehrmacht z.B. Saint Malo kennengelernt hatte, war es mir vergönnt, in friedlichem Partnerschafts-Engagement teilzunehmen und diesen spannenden Ort zu sehen. Bis heute, nein, gerade heute angesichts dessen, was Menschen in der Ukraine jetzt geschieht, weiß ich dieses Privileg friedlicher Begegnungen in meiner Generation hier und heute zu schätzen. Dass der Städtepartnerschaftsverein sich wieder traf, freut mich daher sehr. Ich hoffe, dass die jetzt heranwachsende Generation fortführen wird, was aufgebaut ist!