Der Bahnhof – wenige Bauwerke der Stadt sind so wichtig für die Entwicklung der Stadt. Nicht die Festung Wilhelmstein, nicht der Fliegerhorst, der Schacht, das Landeskrankenhaus, der Kanal, die Autobahn oder das Hochregallager. Allein das Stift übertrifft den Bahnhof an Bedeutung: Dort liegt eine von zwei Keimzellen der Stadt, wohl die bedeutendere. Der Bahnhof aber – jetzt knapp 174 Jahre alt – ließ das ärmliche Wunstorf zum Knotenpunkt werden. So begannen in der 2.300 Einwohner großen Stadt Industrialisierung, Fortschritt und Wachstum.
Wer das Gebäude heute sieht, kann dessen Wert schwerlich erkennen. Es bröckelt, es rieselt, es blättert ab. Renovierungen und Modernisierung wirken eher seelenlos und rein funktionell. Der Bau des hannoverschen Architekten Conrad Wilhelm Hase ist heute ein Ort wie viele. Man kommt an, man geht hindurch: Hin und weg. Hase war Architekt und Hochschullehrer und gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Neugotik des 19. Jahrhunderts. 260 Gebäude hat er geschaffen und mit seiner „Hannoverschen Schule“ Tausende von Architekten geprägt. In Hannover konzipierte er unter anderem das Künstlerhaus und die Christuskirche. Außerdem leitete er die Restaurierung des Alten Rathauses und wirkte entscheidend am Bau der Marienburg bei Nordstemmen mit. Für die Königlich-Hannoversche Eisenbahndirektion entwarf er außer dem Bahnhof in Wunstorf auch die in Celle und Lehrte.
Des Königs Eisenbahner legten Wert darauf, nicht reine Zweckbauten zu errichten, sondern Repräsentatives. Hases Material war Backstein, gebrannter Ton, mit dem er Gebäude schuf, deren Formenreichtum neu war. Der Wunstorfer Bahnhof, dessen Bau Hase überwachte, ehe er sich dem Kloster Loccum zuwandte, zeigt mit den typischen Rundbogen die Handschrift Hases. Das Eingangsgebäude und sein Pendant an der anderen Kopfseite zeigen aber auch noch klassizistisch geformte Fenster. Und: Es ist kein Backsteinbau. Vermutlich deshalb, weil die Planungen 1843 begannen, Hase aber erst von 1848 an konsequent seinen Stil entwickelte.
Das Gesamtgebäude ist großzügig angelegt. Die Planer haben richtig vorausgesehen, dass diese Trennungsstation zweier Linien viele Fahrgäste zu bewältigen haben würde. Wartesäle und Abfertigung sind deutlich größer als in Lehrte. Die langen Bahnsteige an den beiden Längsseiten wurden mit einem Zinkdach auf eisernen Säulen ausgestattet. Vom Bahnhof führte ein breiter Weg mit Lindenbäumen auf beiden Seiten in Richtung Stadt. Kenner hielten die Anlage für die schönste aus der Anfangszeit der Eisenbahn im Königreich Hannover. 1848, im Jahr der Inbetriebnahme, ist der Bahnhof sicherlich das architektonische Prunkstück der Stadt.
Wunstorf – 871 erstmals in einer Urkunde erwähnt – ist 1845 ein schwaches Gemeinwesen. Die positive Entwicklung ist bei zwei großen Feuern und im Dreißigjährigen Krieg unterbrochen worden. Plünderungen und Zerstörungen können über Jahrzehnte nicht wirklich überwunden werden. Das wohlhabende Stift verarmt, die Verwaltungsarbeit von Rat und Bürgermeister versinkt im Durcheinander, die Schulden wachsen. Wer „Amtsgeschäfte“ auszuüben hat, wie Stadtvogt Johann Joachim Zorn Anfang des 18. Jahrhunderts, muss traurige Bilanzen ziehen: schlechter Bildungsstand, Besäufnisse im Rathaus, wachsende Kriminalität. Die Franzosenzeit bringt Unruhe und Belastungen, Truppen aus Preußen, Schweden, England und Russland nehmen nacheinander die Stadt ein. Historiker und Chronisten sprechen von zeitweiser Verelendung.
Die Wende kommt mit der Eisenbahn. Heimatkundler Armin Mandel schreibt 1971 im Jahrbuch zum Stadtjubiläum, „prominente Wunstorfer“ seien in einer Schrift des Wirtschaftstheoretikers und Unternehmers Friedrich List auf Pläne für Bahnlinien zwischen Hannover und Bremen sowie Hannover und Minden gestoßen. Vorgesehen sind geradlinige Strecken. Die würden aber Wunstorf nicht berühren. So senden sie, laut Mandel, einen Brief an König Ernst August und bitten um Unterstützung. Der König möge verfügen, dass in „möglichster Nähe … ein Anhaltepunkt, verbunden mit Aus- und Einladeposten, angelegt“ werde. Die Wunstorfer bringen viele Argumente vor, darunter auch die Garnison: An der Südstraße ist die Königliche Reitende Artillerie in der Prinz-Wallis-Kaserne stationiert, in einem Fachwerkgebäude, das seit Jahrzehnten als Teil des Landeskrankenhauses, jetzt des Klinikums, genutzt wird. Mit einem Eisenbahnanschluss, so die Wunstorfer Briefschreiber, könne die Einheit jederzeit schnell verlegt werden – falls es einmal zur „Unterbrechung des Friedens“ kommen sollte.
Andere Chronisten sind sich sicher, dass ein Schreiben der Hannoverschen Landdrostei, der Vorgängerin der Bezirksregierung, an die Stadt Wunstorf ausschlaggebend gewesen sei. Darin wird auf das Vorhaben hingewiesen, der Wunstorfer Magistrat um Stellungnahme gebeten. Die Wunstorfer antworten im November und empfehlen den Bau „auf das Allerdrängendste“. Schon im nächsten Jahr wird die Strecke vermessen, und der König gibt 1840 grünes Licht. Drei Jahre später werden die Feinplanungen aufgenommen, Wunstorf stellt kostenlos Grundstücke bereit und will sich auch finanziell beteiligen: 2.000 Taler sollen fließen, wenn der Haltepunkt näher an die Stadt gelegt werde. Dazu kam es nicht, und im Mai 1846 begann der Bau von Bahnhof, Nebenanlagen, Über- und Unterführungen am heutigen Standort.
Mandel liefert 1971 eine andere Darstellung: Dem König sei von den Wunstorfern vor Augen geführt worden, welche Güter von der Stadt aus in die Ferne transportiert werden könnten: Steinkohle aus Rehburg und Barsinghausen, Torf aus der engeren Umgebung, ebenso Ziegel und Steine, nicht zuletzt Mergel aus der Grube in Kolenfeld. Ob es diese Güter sind, deren Verwertung dem König attraktiv erscheinen, oder ganz persönliche Motive, ist letztlich nicht bekannt geworden. Es wird auch erzählt, dass der König von Hannover deshalb auf die Planungen Einfluss genommen habe, weil ihm die Vorstellung lärmender und dampfender Züge in der Nähe seiner Herrenhäuser Gärten nicht behagte. Deshalb sollen die Eisenbahn- und Bauingenieure reagiert und die Strecken in Richtung Wunstorf verschoben haben. Hase erhält den Auftrag, den Bahnhof zu planen, auf Luther Grund und Boden. Am 15. Oktober 1847 fährt der erste Zug nach Minden, am 12. Dezember der erste über Neustadt nach Bremen.
Mit dem Zugverkehr kommt in Wunstorf etwas in Gang, was später als Boom bezeichnet worden wäre. Um den Bahnhof herum entstehen Werkstätten und Industriebetriebe. Wichtig ist auch: Erstmals baut die Stadt Wunstorf eine lange Straße aus dem relativ engen Kreis der alten Stadtgrenzen hinaus nach Osten – die Bahnhofstraße. Sie wird großzügig angelegt und mit Linden bepflanzt. Langsam, aber sicher wächst dort ein neuer Stadtteil. Entstehen in der Umgebung des Bahnhofs Werkstätten und Betriebe, so werden an der Bahnhofstraße, später auch an der Frankestraße, Bürgerhäuser und Villen gebaut. Bauunternehmer sichern sich große Flächen und errichten außergewöhnliche Gebäude. Unternehmer siedeln sich an und lassen sich repräsentative Firmensitze bauen.
Während im alten Stadtzentrum kleine Ackerbürgerhäuser das Stadtbild dominieren, wird die Bahnhofstraße zum Symbol für wachsenden Wohlstand und Großbürgertum. Ein Neubau der Post, eine Molkerei, eine Gärtnerei, die den Königshof beliefert, eine Böttcherei, eine Kupferschmiede, eine Gerberei, Hotels und nicht zuletzt das Lehrerseminar, heute Hölty-Gymnasium, verändern den Charakter Wunstorfs. Etliche Gebäude stehen nicht mehr. Das über Wunstorf hinaus bekannte Hotel Friese am Bahnhof oder der repräsentative Backsteinbau der Holzhandlung Pflüger sind Beispiele dafür. Sie wurden abgerissen, als nach der Aueregulierung in den 1980er Jahren die Umgestaltung der Innenstadt in Angriff genommen wurde, die Hochstraße entstand, die neue Streckenführung der Bundesstraße 441 und die Fußgängerzone.
~ Für diesen Text wurden Veröffentlichungen von Klaus Fesche, Armin Mandel, Werner Kaemling, Bernd Riedel und Thomas Heugen sowie private Aufzeichnungen ausgewertet. ~
Dieser Artikel erschien zuerst in Auepost 05/2020
Liebe Redaktion,
bitte weitere Artikel über die Geschichte unserer Stadt. Sehr Lehrreich!! Dickes Lob!!