Unter der Überschrift „Erschwerte Kompromissfindung garantiert“ schreibt Hölty-Schüler Jesper Schwarzer über den Auftritt der Direktkandidaten für den Bundestag vor Schülern des Hölty-Politikkurses:
„Irgendetwas, ich weiß nicht was, aber irgendetwas wird hier heute passieren“, wisperte man noch einem anderen Jahrgangsmitglied am Morgen in der Pausenhalle zu. Und es ist vieles passiert. Sei es gegenseitige Schuldzuweisungen bei den Direktkandidaten, seien es politisierte, selbst angefertigte Plakate der Schüler oder Momente des Lachens. Momente des Lachens, die abrupt enden, weil verstanden wird: All das könnte so heiter sein, wenn es nicht um ernsthafte Bewerber für das „Hohe Haus“ ginge.
Aber von vorn. Um etwa 10 Uhr hatten sich die Schüler der Politikkurse (grundlegendes wie erhöhtes Niveau) der 12. und 13. Klassen des Hölty-Gymnasiums in einer Gemengelage aus Stühlen, Menschen und sechs Wahlständen zurechtfinden müssen. Wer war da? Sechs Direktkandidaten für den Bundestag aus dem Wahlkreis 43, Hannover-Land I.
Wie es im Bundestag organisiert ist, hatten sie sich auch hier auf den Stühlen des politischen Spektrums wiedergefunden. Von links nach rechts: Volker Napp (Die Linke), Jessica Peine (Bündnis 90/Die Grünen), Rebecca Schamber (SPD) – dazwischen die Moderatoren Valerie Fink (Jahrgang 13) und Philip Held (Jahrgang 12) – sowie Robert Reinhardt-Klein (eingesprungen für den erkrankten Jelger Tosch von der FDP), Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU) und Dirk Brandes (AfD).
Nachdem der neue Schulleiter Dr. Robert Conrad ein paar einleitende Worte vorausgeschickt hatte, sollte die Veranstaltung beginnen. Conrad hatte von der „besorgniserregenden Tendenz der Polarisation“ wie auch von extremistischen Strömungen und der Gelegenheit gesprochen, sich an diesem Tage mit den verschiedenen Positionen auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt hatte er die jüngste gemeinsame Abstimmung von CDU, FDP und BSW mit der „Alternative für Deutschland“ erwähnt. Auch sie würde die Veranstaltung bedeutend vorprägen.
Die Themenblöcke für die knapp drei Stunden: Migrationspolitik, Innen- und Außenpolitik sowie Fragen der Schüler. Eine bündige Vorstellungsrunde beginnt, und bereits hier zeigen sich die Leitbilder der Politik und der Charaktere, die sie betreiben. Linken-Politiker Napp spricht von einer „runderneuerten Linken“ und dem streitsüchtigen BSW, das sich als „irre Truppe von [ihnen] abgetrennt hat“. Er erzählt von seinem Maschinenbau-Studium auf dem zweiten Bildungsweg sowie von seiner Arbeit in der Jugendpflege und Seniorenbetreuung.
Das Mikrofon wird zu Peine gereicht. Die grüne Kandidatin sucht vorerst die Sympathie derer, die vor der Fragerunde gehen müssen: Es sei „räudig, am zweiten Tag schon eine Klausur zu schreiben“. Während das jugendliche Publikum später dem konservativen Flügel fehlende Investitionen gegen soziale Ungerechtigkeit attestiert oder die Nähe zur AfD, betreffen die kritischen Stimmen zu Peine deren vermeintlich fehlenden Themenbezug. Und auch ihre „Anbiederung“ im atypischen Jugendsprech kommt nicht gut an. Ansonsten erklärt sie, dass sie aus der Politikwissenschaft komme und Verwaltungsdigitalisierung sowie (soziale) (Geschlechter-)Gerechtigkeit Themen ihrer Agenda seien.
Schambers Vorstellung entspricht deutlich mehr dem Bild des Politikerduktus, denn ihr Eingangsstatement ist voll von konventionellen Politiker-Ausdrücken. Sie gibt ihre Vita mit Mitgliedschafts- und Bundestagdaten wieder und erläutert ihre Laufbahn, in der sie für die frühere Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin Caren Marks gearbeitet habe. Jetzt sei sie im Verteidigungsausschuss und im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit aktiv.
Reinhardt-Klein fährt fort: Er ersetze nur Tosch, kandidiere das erste Mal für den Bundestag. Er sei stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Sprecher für Verkehr und Jugendhilfe, aber auch für Gleichstellung, Integration, Antidiskriminierung und Diversität.
Hendrik Hoppenstedt gibt, ähnlich wie Schamber und Reinhardt-Klein, die Eckpunkte seiner politischen Laufbahn wieder: Bürgermeister von Großburgwedel, Staatsminister im Kanzleramt, parlamentarischer Geschäftsführer, zuständig für das „Managen der Fraktion“.
Als Brandes sich vorzustellen beginnt, sind die Einen angespannt-still, die Anderen pfeifen. Die Plakate mit Aufschriften wie „Fuck NZS“, „Kein Platz für Nazis“ oder „Nie wieder 1933“ lassen ihn offenbar unberührt. Hatte er ähnliche Aktionen erwartet oder diverse Male vorher erlebt? Er erklärt, warum es die AfD geben müsse, und dass er früher immer CDU- und FDP-Wähler gewesen sei. Die AfD führe jetzt nur den Kurs weiter, den die CDU früher vertreten habe. Heftiges Stirnrunzeln bei CDU-Mann Hoppenstedt.
Angesichts der Anschläge von Magdeburg und Aschaffenburg gerät die Runde regelrecht in eine klassische Migrationspolitik-Debatte. Eines der Hauptthemen dieser Bundestagswahl. Das Spaltungs- und Polarisationsthema, das Menschen auf der einen Seite konservativ und ampelverdrießlich wählend und auf der anderen Seite rechtskritisch und demonstrativ auf den Protestwegen zurücklässt.
Es entfaltet sich eine Debatte, die es so in den Talkshows von „Markus Lanz“ bis „Maischberger“ hätte geben können. Die Nachahmung gelingt deswegen teilweise so realistisch, weil Bestandteile überwogen, die Debattenkultur so schwer machen: die Melange aus fehlendem Themenbezug, Anschuldigungen statt eigener Programmatik, Emotionalisierung statt Empirie. Nur wird hier nicht wie bei Lanz permanent unterbrochen, sondern nahezu gar nicht.
Das war ebenso höflich wie undienlich. Denn bisweilen redeten sich die Politiker minutenlang in Rage. Dass Redeanteile mehr beachtet werden als das Diskutieren der Ausgangslage, macht die Veranstaltung mehr zu einer Jeder-sagt-mal-etwas-Runde als zu einer lebhaften, professionellen Debatte.
Napp und Peine betonen, dass die Abschiebepläne irrsinnig seien, und fordern, zwischen innerer Sicherheit und Migrationspolitik zu differenzieren. Hoppenstedt sagt, die AfD nähere sich – unverständlich – der CDU an. Und erinnert an die von Adenauer vorgegebene Westbindung. Der Christdemokrat formuliert mehrfach seinen Ekel vor der AfD und macht deutlich, dass es ihm schwerfällt, Brandes zu begegnen. Es ist spürbar, dass es ihn kränkt, wenn auch ihm kritische und ablehnende Plakate entgegengehalten werden.
Schamber spricht, ähnlich wie Peine, über die Fluchtursachen und gibt in die Runde, es handele sich nicht nur um ein innen-, sondern auch um ein außenpolitisches Thema. Brandes betont die Notwendigkeit der AfD-Migrationspläne und passt sich an die Gruppe insofern an, als dass er die sogenannten „Remigrationsziele“ abmildert und auf den ehemaligen CDU-Kurs verweist.
Im Block zur Außenpolitik dominiert die von Valerie Fink gestellte Frage zu den Auswirkungen der Trump-Wahl. Brandes meint, es gebe „wirtschaftlich Einiges mit Trump auszufechten“, und er „wird radikal seine Interessen vertreten“. Hoppenstedt sieht, dass Trump ein „völlig anderes Wertesystem“ habe und leitet daraus ab, wirtschaftliche Unabhängigkeit sei die Lösung, dem zu trotzen.
Reinhardt-Klein knüpft dort an, wo Brandes und Hoppenstedt auch schon ähnlich ansetzten: „[Wir] müssen Trump auf Augenhöhe begegnen, uns selbst verteidigen können.“ Stummes Entsetzen im Raum, als er wider Erwarten die Pläne Trumps positiv bewertet, den Gazastreifen zu besetzen und die Bewohner umzusiedeln. Er wird das später zu relativieren versuchen.
In diesem Teil der Diskussion entsteht eine Konfrontation zwischen Rebecca Schamber und Hendrik Hoppenstedt. Während sie Merz‘ Pläne für den Beginn der Kanzlerschaft mit Trumps Auftreten vergleicht („Merz hat sich wie Trump 2.0 benommen“), wiederholt er mehrfach den Satz „Wenn Sie das so toll finden, wie es gelaufen ist, ist das in Ordnung. Letztlich wird der Wähler entscheiden.“ Schamber hebt ihre Sorge wegen drohender Strafzölle hervor, Peine, dass die „Wahl Trumps eine Warnung“ sein müsse, Napp meint, „Trump hält meine Partei für eine sehr gefährliche Partei“.
An diesem Tag schimmern zu wenige Entwürfe hervor zwischen den Streitigkeiten und Monologen. Es bleibt die Frage, ob die Chance, sich mit den verschiedenen Positionen auseinanderzusetzen, von der Schulleiter Conrad gesprochen hatte, genutzt werden konnte.
Einen Tag später treffen Schamber, Hoppenstedt, Peine und Tosch erneut aufeinander: in der Stadtkirche bei einem Frage- und Antwortspiel, das das Forum Stadtkirche organisiert hat. Eingeladen sind die Bewerber der Parteien, die im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten sind. Moderatoren sind die Journalisten Sabine Steuernagel und Carsten Ens. Johanna Mellar aus der IGS berichtet.
Besonders intensiv werden die Themen Bildung, finanzielle Ausstattung der Kommunen und Schuldenbremse debattiert. Rebecca Schamber (SPD) betont die Notwendigkeit einer besseren finanziellen Unterstützung für Studierende und Auszubildende sowie die Dringlichkeit des sozialen Wohnungsbaus. Die Finanzierung solle unter anderem mit einer Reform der Erbschaftssteuer erfolgen. Jelger Tosch (FDP) hingegen spricht von einer „Vision 2050“ und hebt hervor, dass die aktuelle Wahl richtungsweisend für die nächsten Jahrzehnte sei.
Besonders wichtig sei eine bessere Ausstattung der Schulgebäude sowie eine Reform des Lehramtsstudiums, das in ein duales System überführt werden solle. Zudem plädiert er für ein einheitliches Abitur und eine stärkere Konkurrenzfähigkeit im internationalen Vergleich.
Hendrik Hoppenstedt (CDU) wirft die Frage auf, ob Digitalisierung in der Bildung wirklich den hohen Stellenwert verdiene, der ihr aktuell zugesprochen werde. Er äußert Bedenken, dass Kinder wegen der übermäßigen Digitalisierung an Sprachkompetenz verlieren könnten. Es müsse sichergestellt werden, dass Schülerinnen und Schüler individuell abgeholt würden, je nach ihrem aktuellen Leistungsstand.
Jessica Peine (Grüne) spricht sich für eine kontrollierte Internetnutzung im Bildungsbereich aus. Zudem sei es notwendig, die Kerncurricula an die fortschreitende Digitalisierung anzupassen, um Schülerinnen und Schüler optimal auf die Zukunft vorzubereiten. Ein weiteres wichtiges Thema ist die finanzielle Lage der Kommunen. Einigkeit herrscht darüber, dass viele Städte und Gemeinden derzeit mit erheblichen finanziellen Engpässen kämpfen. Die CDU argumentiert, dass die Verteilung der Gewerbesteuer ungerecht sei und reformiert werden müsse, um allen Kommunen gleiche Chancen zu bieten.
Beim Thema Schuldenbremse gehen die Meinungen auseinander. Die SPD spricht sich für eine Reform aus und betont, dass Kommunen nicht direkt der Schuldenbremse unterliegen würden. Dennoch brauche es mehr Flexibilität bei der Kreditaufnahme. Auch die Bewerbin der Grünen spricht sich für eine Reform aus. Der CDU-Kandidat warnt hingegen davor, die Schuldenbremse zu lockern, da dies zwangsläufig zu einer noch höheren Verschuldung führen würde. Ach der FDP-Kandidat plädiert für eine Beibehaltung der Schuldenbremse.
Ein konkretes Infrastrukturprojekt wird ebenfalls thematisiert: der Plan einer neuen Bahnstrecke in Richtung Westen. Alle Bewerberinnen und Bewerber befürworten den Ausbau der Schieneninfrastruktur. Der CDU-Sprecher argumentiert, dass zusätzliche Gleise notwendig seien, um den steigenden Andrang zu bewältigen und gleichzeitig mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Die Kandidatinnen der SPD und der Grünen betonen die Bedeutung der Mobilitätswende und des Deutschlandtakts für eine effizientere Bahnverbindung.
Zum Abschluss der Diskussion kommt das Thema Migration zur Sprache. Schamber hebt hervor, dass vertrauensvolle Zusammenarbeit und langfristige Integrationsstrategien entscheidend seien. Fazit: Die Diskussion bietet den Anwesenden einen informativen Einblick in die aktuellen politischen Debatten und zeigt, welche Herausforderungen und Lösungsansätze die Parteien für die kommenden Jahre sehen.
Korrektur: Position von Jelger Tosch zur Schuldenbremse geändert. Im ursprünglichen Text hatte gestanden, dass Grüne und FDP sich für eine Reform aussprechen.
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