Der Barneplatz und Umgebung werden in nächster Zeit umgebaut und neugestaltet. Dabei könnte man den Platz genauso gut unter Denkmalschutz stellen – und das gesamte Viertel gleich dazu. Denn in welch historisch bedeutsamem Umfeld die Bewohner hier leben, ist ihnen meistens gar nicht bewusst: Die Barne ist ein frühes Beispiel für autogerechtes Bauen in den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik – und wurde vom Verfasser des Werks „Die autogerechte Stadt“ persönlich geplant: Professor Hans Bernhard Reichow.
Das Wunstorfer Wohngebiet, das heute in der Regel kurz und schlicht als „Barne“ bezeichnet wird, entstand ab 1960 als „Barnestadt“. Der Name geht zurück auf eine alte Flurbezeichnung, deren Bedeutung umstritten ist. Frühere Deutungen erkannten darin das plattdeutsche Wort für „Tränke“, neuere Interpretationen verknüpfen es mit dem ebenfalls plattdeutschen „brennen“. Das neue Stadtviertel sollte nicht nur Wunstorf erweitern, um die nach dem Zweiten Weltkrieg immens gestiegene Einwohnerzahl mitaufzunehmen, sondern es war von vornherein als „Stadt in der Stadt“ konzipiert.
Bis zum ersten Spatenstich gab es südöstlich der Mindener Bahn nicht viel. Nun entstand hier das neue Barneviertel. Knapp 1.000 neue Wohneinheiten sollten auf der einstigen Brachlandschaft geschaffen werden. Das war für das damalige Wunstorf, das Ende der 1950er Jahre erst 13.000 Einwohner zählte, eine gewaltige Dimension. Wohnraum für etwa 5.000 Einwohner entstand quasi auf einen Schlag neu. Die ursprünglichen Pläne zur Lösung der Wohnungsnot waren noch einmal deutlich aufgestockt, beinahe verdreifacht worden. Es sollte nun gleich der „große Wurf“ werden auf 268.000 Quadratmetern. Bevor die Bagger anrückten, war die Barne an dieser Stelle eine heideartige Wiesen- und Weidelandschaft gewesen. Während schon die ersten Häuser standen, grasten in Sichtweite des Barneplatzes weiter Schafe.
Die Barne war nicht als homogene Siedlung gedacht, sondern sah von vornherein neben Hoch- und Mehrfamilienhäusern auch Reihenhäuser und Einfamilienhäuser vor. Neben Mietwohnungen wurden zudem von Anfang an auch Eigentumswohnungen errichtet. Es sollte aber auch keine „Schlafstadt“ geschaffen werden, sondern ein funktionierender neuer Stadtteil mit eigener Infrastruktur. Daher entstanden auch das Schulzentrum, ein Einkaufszentrum, Sportmöglichkeiten, ein Kindergarten und eine Kirche mit Gemeindezentrum.
Die Gesamtplanung des neuen Stadtviertels übernahm Reichow. Er hatte persönliche Kontakte nach Wunstorf und war wohl auch deswegen auf die Chance aufmerksam geworden, hier ein neues Stadtviertel nach seinen Vorstellungen umsetzen zu können, vermutet etwa Stadtarchivar Klaus Fesche. Die einzelnen Gebäude wurden letztlich von unterschiedlichen Bauträgern errichtet. Die ersten Häuser waren 1964 bezugsfertig. Die ersten neuen Straßen, allesamt nach berühmten Malern benannt, entstanden vom Barneplatz ausgehend. Den Abschluss bildete die Spitzwegstraße.
Der Barneplatz war bewusst als Mittelpunkt des neuen Stadtviertels konzipiert, als Einkaufszentrum. Was heute eher als unerwünscht gelten würde, weil man die Konzentration auf die Fußgängerzone stärken möchte, war auch damals schon Bestandteil der Debatte – die alteingesessenen Handwerker, Händler und Dienstleister fürchteten Konkurrenz. Aber es gab keine Alternative. Die vielen Bewohner des neuen Viertels mussten adäquat versorgt werden und sollten dazu auch kurze Wege haben. Für alltägliche Besorgungen sollte man trotz autogerechter Straßen nicht auf das Auto oder den Bus angewiesen sein.
Alles Wichtige fand sich ab 1965 dann auch vor Ort, nachdem der markante Komplex mit der Ladenzeile am Platz hochgezogen worden war. Reinigung, zwei Bankfilialen, Apotheke, Imbiss, Juwelier, Fleischer, Bäcker, zwei Kneipen, einen Maler und einen Schreibwarenladen gab es. Dazu gleich zwei Supermärkte. Das jetzige mongolische Restaurant war ursprünglich einmal ein Edeka, der später zu „Plus“ werden sollte. Gegenüber im Geschäftsblock auf der anderen Straßenseite befand sich ein „co op“-Supermarkt. Auch abseits des Barneplatzes entstanden kleine Kioske. Die Dichte des einstigen Angebots hat vor allem in den letzten Jahren stark abgenommen und die ehemaligen Ladengeschäfte werden inzwischen auch als Büroflächen genutzt. Von den ursprünglich vertretenen Geschäften ist nur noch die Sonnenapotheke geblieben. Der „Riegel“ am Barneplatz prägt das Gesicht des Viertels jedoch bis heute.
Ein weiterer damals wichtiger Baustein des Stadtteilkonzepts ist jedoch vor einigen Jahren beseitigt worden. Die Johanneskirche mitsamt Gemeindezentrum wurde 2008 abgerissen für den Bau von Altenwohnungen und Büroflächen, nachdem sie 2007 entwidmet worden war. Rüdiger Heß-Eichenberg, dessen Mutter früher die Sonnenapotheke führte und der dort nun selbst der Besitzer ist, erinnert sich an die „charmante“ Gestaltung des Innenraums des Gemeindetreffpunkts. Dunkelbraunen Fußboden und blaues Gestühl hätte es hier gegeben, es sei ein vielseitiges Zentrum gewesen. Ein „Jugendkeller“ gehörte auch dazu.
Das Äußere der Johanneskirche hätte nach Einschätzung vieler jedoch keinen Designpreis verdient gehabt: ein als hässlich empfundener grauer Betonklotz, genau wie große Teile des Platzes selbst. Waschbeton und Sichtbeton wechseln sich ab. Der Stil steht für eine Epoche der Nachkriegszeit, in der überall schnell und günstig neue Stadtviertel in der Bundesrepublik gebaut wurden. Nach diesem Vorbild wurden damals neue Wohnquartiere errichtet, und auch das Einkaufszentrumskonzept findet sich in verblüffend ähnlicher Form dort wieder. Es entstanden graue Blöcke in der Architekturrichtung des „Brutalismus“. Das bevorzugte Material war dabei oft dasselbe. Nackter Beton sowie Fassaden- und Gehwegsplatten aus Waschbeton waren das typische Erscheinungsbild. Es war nicht nur eine praktische Lösung für kostengünstiges Bauen, sondern auch die Mode der Zeit. Sichtbarer Beton galt als unverstellte, als ursprüngliche Architektur, effizient, funktional und modern. Dabei war es keineswegs nur billiges Material: Die Waschbetonplatten mit ihrem Kieselsteinmuster auf dem Barneplatz galten bereits als etwas Höherwertigeres, die billigere Alternative wären glatte Betonfliesen gewesen. Haltbar- und Langlebigkeit waren aber für die neuen Bauwerke jedoch ebenso wichtig.
Der Brutalismus erlebt seit einigen Jahren sogar wieder eine kleine Renaissance im modernen Hochbau, doch seinen Höhepunkt hatte er in den 1960er bis 1970er Jahren. Das ursprüngliche Barneviertel ist Teil dieser Epoche und trägt damit auch erkennbar viele Elemente dieses Architekturstils, der übrigens nichts mit „brutal“ zu tun hat, sondern vom französischen Wort für „unverputzt“ abgeleitet ist. „Béton brut“ meint schlicht Sichtbeton. Auch an den noch vorhandenen Einfassungen rund um den Barneplatz lässt sich dieser Baustil noch heute ablesen.
Die Barne in Wunstorf war einer von mehreren Orten in Deutschland, in denen Reichow seine Ideen und Konzepte von der autogerechten Stadt umsetzen konnte. Wie ein autogerechter Stadtteil wirkt die Barne heute eigentlich gar nicht – auf dem Barneplatz selbst sind gar keine Autos erlaubt, es ist ein reiner Fußgängerbereich, und Parkplätze gibt es in den oft engen Straßen auch viel zu wenige, so dass aktuell der Wunstorfer Bauverein – Wohnungsbaugenossenschaft und größter Grundeigentümer im Barneviertel – schon wieder dabei ist, neuen Parkraum zu schaffen.
Diese Sichtweise beruht jedoch auf einem Irrtum. „Autogerecht“ bedeutete für Reichow nicht, dass dem Auto alles untergeordnet wird. Die rasant wachsende Bedeutung des motorisierten Individualverkehrs wurde zwar nicht infrage gestellt, das Auto als das neue Verkehrsmittel für alle wurde als gegeben akzeptiert. Doch die starke Fokussierung auf den zunehmenden Straßenverkehr war kein Selbstzweck, das Ziel war vielmehr die Schaffung idealer Lebensverhältnisse für die Bewohner. Die Autogerechtheit war damit ein wichtiger Baustein im stadtplanerischen Gesamtkonzept, das das komfortable Wohnen des Menschen jedoch in den Mittelpunkt stellte.
Der Gedanke dahinter war, dass gutes Wohnen nur dann möglich ist, wenn der Straßenverkehr so wenig wie möglich stört – und das sollte nicht etwa dadurch erreicht werden, dass man die Autos aus Wohnbereichen verbannte, sondern sie möglichst wenig behinderte. Was heute wie ein Witz klingt, mutete damals logisch an. Als größte Lärmquellen wurde das Bremsen, Anhalten, Anfahren und Rückwärtsfahren ausgemacht. Das Gegenmittel hierfür sollte ein möglichst fließender Verkehr sein: Wenn Autos ungehindert fahren könnten, würde der Verkehrslärm minimiert werden, so die Annahme. Dazu mussten aber „künstliche“ Verkehrshindernisse wie Kreuzungen und damit auch Ampeln oder Stoppschilder vermieden werden.
Genau das ist der Grund, weshalb die Barne nicht mit einem Geflecht von rechtwinkligen Straßen überzogen wurde, wie es z. B. in der zehn Jahre früher entstandenen Oststadt der Fall war. Man kann in der Barne bis heute tatsächlich nicht „um den Block“ fahren. Stattdessen wurden von wenigen Hauptstraßen sehr viele Sackgassen abgezweigt, die aber alle mit einer Wendeschleife versehen sind. Die Autos sollten hier zum Wenden nicht anhalten und rangieren müssen, sondern – flüssig – einfach im Kreis zurückfahren können. Der Durchgangsverkehr sollte sich auf die wenigen großen Straßen konzentrieren.
Reichows Ideen flossen direkt in die Anordnung der Straßen ein. Die Nebenstraßen der Barne entstanden nicht völlig willkürlich, sondern folgten den örtlichen Gegebenheiten, doch im Kern entsprach alles demselben Prinzip: Fließenden Verkehr wollte der 1974 gestorbene Architekt durch die Anlehnung an Naturprinzipien erreichen – das Straßenbild der Barne-Nebenstraßen ähnelt daher der Verästelung eines Blattes, die Linien sind „organisch“, fließend, ohne Kanten.
Auf Satellitenbildern und Stadtplänen wirkt gerade diese der Natur nachempfundene Anordnung ironischerweise eher künstlich, da sie sehr gleichmäßig ausfällt – man erkennt das wiederkehrende Muster dahinter. Im Gegensatz dazu werden die in rechteckiger Form verlaufenden Straßenzüge im Rest der Stadt eher als „natürlich“, weil typisch wahrgenommen.
Ein ebenso wichtiger Aspekt war, die Fußgänger möglichst vom Straßenverkehr fernzuhalten. Einerseits natürlich wieder, um den ungebremsten Verkehrsfluss zu ermöglichen, andererseits aber auch zum Schutz der Menschen: Eine starke Prämisse war bei Reichow die Verhinderung von Unfällen zwischen Autos und Fußgängern. Unfälle könnten, so schrieb er in seinem Standardwerk, in letzter Konsequenz nur dadurch verhindert werden. dass man die Fußwege konsequent von den Straßen trenne. Denn ein Autofahrer würde im Ernstfall auch in eine Personengruppe auf dem Bürgersteig fahren, wenn er dadurch sein eigenes Leben retten könne. In dieser Zeit waren selbst einfache Sicherheitsgurte noch optional, Airbags unbekannt.
Zum Prinzip der „autogerechten Stadt“ im Sinne Reichows gehörte daher auch, Fußgänger, Radfahrer und Autos räumlich zu trennen. Straßen sollten für Autos da sein, Wege für Fußgänger. Parallel zu den Straßen in der Barne entstand daher auch ein dichtes Netz von Verbindungswegen, die nur für Fußgänger und Radfahrer gedacht sind. Sie führen zwischen und neben den Häusern entlang. Auch der Barneplatz selbst gehört dazu. Die Barne ist dadurch – trotz oder gerade wegen der Autogerechtheit – vor allem für Fußgänger ausgelegt. Am deutlichsten merkt man dies aktuell noch am Barneplatz: Die Läden sind direkt nur zu Fuß erreichbar, die Ladenfronten liegen vom rückwärtigen Hauptparkplatz abgewandt. Dazu kommen die vielen Verbindungswege zwischen den Häusern. Man kann auf diesen Wegen, wenn man möchte, einmal quer durch das Barneviertel laufen, ohne eine Straße überquert zu haben.
Die organische Idee, das Prinzip des Flusses, wurde relativ strikt umgesetzt, Es gibt zwar keine Hauptstraße in Form eines übergreifenden Einbahnstraßen-Ringverkehrs, wie er andernorts oft als Grundlage eines autogerechten Viertels diente, doch die Nebenstraßen weisen die typische Verästelung auf.
Oft haben sich Trabantenstädte zu „Schlafstätten“ entwickelt, ihre Straßen zu „Monsterkreuzungen“. So etwas war nicht im Sinne Reichows. Abgeschreckt wurde der Stadtplaner auch von mehrstöckigen Fahrbahnen wie damals schon in den USA. Ein menschenwürdiges Umfeld blieb bei ihm der Mittelpunkt. Dazu zählte zum einen viel Grün im Wohnviertel und aufgelockerte Flächen mit viel Abstand zwischen den einzelnen Gebäuden. Die Ausbremsung des Straßenverkehrs, ohne ihn direkt zu behindern, wurde durch die geschwungen angelegten Stichstraßen beabsichtigt und sollte für mehr Ruhe sorgen.
Das Ziel von hohem Wohnkomfort spiegelt sich auch in der Architektur der in der Barne errichteten Häuser selbst: Doppelbalkone in den Mehrfamilienhäusern wurden vermieden, jeder Haushalt sollte seine Rückzugsorte haben. Außerdem wurden die Häuser so errichtet, dass sie möglichst viel Sonne mitnahmen: Einige Hochhäuser haben keine gerade Front, sondern sind wie der Barneplatzriegel abgerundet, so dass die Fenster dem Lauf der Sonne folgen. Aber auch die quadratischen Mehrfamilienhäuser wurden ebenfalls so errichtet, dass das Wohnzimmer und mindestens ein Kinderzimmer von der Nachmittagssonne erreicht werden. Nach Schule und Arbeit sollten die Bewohner nicht in schattigen Räumen sitzen.
Die ersten Bewohner der Barne durften sich privilegiert fühlen in einer Art Zukunftsviertel. Vor allem die Kinder bildeten eine verschworene Gemeinschaft. Gesellschaftliche Unterschiede gab es hier nicht, erinnert sich Heß-Eichenberg, der in der Barne aufwuchs. Wer hier wohnte, gehörte automatisch dazu – und das waren nicht wenige. Die Barne war von Anfang an ein sehr junger Stadtteil. In den Anfangstagen spielten die jüngsten Bewohner teils noch auf Baustellen und Brachgelände, doch auch das Barnewäldchen war schon damals als Abenteuerspielplatz bei den Kindern beliebt; der Bolzplatz kam erst Anfang der 80er Jahre dazu. Der ebenso beliebte Rodelberg entstand parallel zur Barnestadt – es ist der Aushub der Fundamente des Viertels.
Kritiker sehen in Reichows Vorstellungen von organischer Stadtplanung Ausflüsse von Gedankengut des Nationalsozialismus. Die Idee, dass Städtebau von Naturgesetzen bestimmt sein sollte, sei nur vorgeschoben. Tatsächlich hatte Reichow auch im NS-System Karriere gemacht, war Baudirektor in Stettin, plante für den „Lebensraum im Osten“ und war auch beratend für den Wiederaufbau zerbombter Städte zu Ende des Zweiten Weltkriegs unter Albert Speer tätig. Ebenso jedoch war er für seine modernen Ideen, die auch auf den zweiten Blick wenig mit der im Nationalsozialismus bevorzugten Architektur zu tun haben, seitens des NS-Apparates angefeindet worden. Selbst NSDAP-Mitglied geworden, konnte er seine Arbeit fortsetzen. Mit den Ideen von organischer Stadtplanung kam Reichow dann auch deutlich früher in Berührung, etwa in den 1920er Jahren bei Erich Mendelsohn. Auch seine spätere Linie im Wohnungsbau entspricht eher dem „Neuen Bauen“ der Weimarer Zeit.
Unabhängig von politischen Erwägungen würden Wohnviertel in dieser Form heute nicht mehr entstehen. Die Fokussierung auf das Auto zur Erreichung von guten Wohnbedingungen gilt als überholt, das Separieren von Fußgängern vom Straßenverkehr als Irrweg. Dennoch war Reichow seiner Zeit voraus, denn er integrierte schon die Idee der Verkehrsberuhigung in seine Stadtplanung, als alle Welt noch an Begradigung und immer breiter werdende Fahrbahnen dachte. Statt Pollern oder Aufpflasterungen sah seine Planung vor, den Verkehr durch die Straßenführung selbst zu verlangsamen und dadurch letztlich flüssiger, leiser und umweltfreundlicher zu gestalten.
In heutigen Zeiten ist man von diesen Vorstellungen zusehends abgekommen, man hat sie stellenweise sogar ins Gegenteil verkehrt: Autos, Radverkehr und Fußgänger sollen in der heutigen Idealvorstellung gleichberechtigt im öffentlichen Raum unterwegs sein, eine strikte Trennung wird abgelehnt und gilt als kontraproduktiv oder sogar gefährlich. Verkehr wird als Gesamtes betrachtet, der sicherer wird, wenn man die unterschiedlichen Verkehrsarten nicht voreinander versteckt. Zum Beispiel wird Fahrradverkehr wieder zurück auf die normalen Fahrbahnen gelenkt – für Reichow wäre das noch ein Unding gewesen.
Wie eine Trabantenstadt fühlt sich die Barne heute gar nicht mehr an – die Dimensionen haben sich verschoben. Die Barne darf sich in unseren Tagen als integraler Bestandteil der Kernstadt begreifen, nicht zuletzt, weil die Stadt inzwischen noch weiter in den Südosten gewachsen ist. Eine bauliche Durchmischung gibt es dort in den neuen Vierteln jedoch nicht mehr, ein Einfamilienhaus steht neben dem anderen.
Dass die Menschen auch heute noch gern in der Barne leben, liegt auch daran, dass es nicht zu „Exzessen“ kam wie in anderen autogerechten Quartieren der damaligen Zeit. Es gibt keine Beton-Fußgängerbrücken über mehrspurige Straßen, keine Fußgängertunnel unter Straßen hindurch, und die Bürgersteige sind nicht durch Schwellen von der Fahrbahn getrennt. Mit wenigen Ausnahmen: Am Barneplatz gibt es einen kleinen Fußgängertunnel, der mitten durch die Ladenzeile zum Parkplatz führt, und der Barneplatz selbst ist räumlich durch Betoneinfassungen von der Fahrbahn getrennt.
Damals dachte man, dass das Barneviertel irgendwann einmal unter Denkmalschutz stehen würde, doch in Wunstorf ist man sich dieses architekturhistorischen Erbes, das die Barne bildet, nicht sehr bewusst. Andere Städte haben tatsächlich ganze von Reichow geplante Viertel unter Denkmalschutz gestellt, zum Beispiel Hamburg. Die Barne befindet sich allerdings auch längst nicht mehr im „Originalzustand“. Vor allem der Barneplatz war stetigem Wandel unterworfen. Nicht nur deshalb, weil der Platz zehn Jahre verspätet vollendet wurde und bei Fertigstellung praktisch schon aus der Zeit gefallen war, sondern auch, weil er in den Folgejahren immer wieder verändert wurde. Immer wieder wurde Neues errichtet und Altes ergänzt oder entfernt. In den 80er Jahren kam der Brunnen mit dem Wasserspiel um das Stelenkunstwerk herum hinzu, in den 90er Jahren wurden rote Laternen aufgestellt.
Es ist „der Charme vieler früherer Jahrzehnte“, wie es Wunstorfs Stadtplaner Peter Pfadenhauer einmal ausdrückte – und nicht unbedingt positiv meinte. In der Tat mischen sich heute hier noch die Stile der 60er, 70er, 80er, 90er und aktuelle Architektur zu einem sehr diversen Stadtbild. Eine weitreichende Neugestaltung steht nun erstmals kurz bevor, die den alten Barneplatz sehr stark verändern wird. Der Platz soll damit wieder ein zeitgemäßes Erscheinungsbild erhalten. Wie viel von Reichows Vision danach noch erhalten sein wird, muss die Zukunft zeigen. Von der alten baulichen Ansicht des Barneplatzes wird dann allerdings nicht mehr viel übrig sein, Waschbeton und Wegetrennungen werden verschwinden.
Kurioserweise leben die alten Ideen von Reichow mit der jetzt angedachten Umgestaltung sogar teilweise wieder auf: Denn die Parkplätze am Barneplatz sollen an einem Punkt konzentriert werden, statt sich rund um den Platz zu verteilen, und auch die Errichtung eines Minikreisverkehrs statt des jetzigen Dreiecks zur Straße Am Hasenpfahl entspräche den Vorstellungen von einem organisch fließenden Verkehr. Nur mit der Umwandlung eines Teilstücks der Barnestraße zur verkehrsberuhigten Begegnungszone wäre Reichow wohl nicht einverstanden gewesen.
Die Barne war ein Viertel vom Reißbrett, das aber doch organisch angelegt wurde. Es war die Vision einer menschenfreundlichen Umgebung, die mit einer Fixiertheit auf das Auto verwirklicht werden sollte. Wie viele Autos heute wirklich auf den Straßen fahren, ahnte damals allerdings noch niemand. Letztlich hat die Idee trotzdem funktioniert. Die vielen kleinen Wege im Viertel werden als idyllisch wahrgenommen, man wohnt abseits des Durchgangsverkehrs im Grünen und hat trotzdem kurze Wege in die übrige Stadt. Viele Bewohner von früher kämen zurück und lebten heute wieder in der Barne, in den Häusern und Wohnungen ihrer Eltern, erzählt Heß-Eichenberg.
Das Konzept der autogerechten Stadt wurde später auch an anderen Stellen in Wunstorf umgesetzt – etwa in Form des Baus der Fußgängerzone und des Stadtgrabens bzw. der neuen Südstraße, die tatsächlich einmal einen Fußgängertunnel hatte. Während dieser längst wieder verschwunden ist und Ampeln den Durchgangsverkehr in den Wahnsinn treiben, kann in der Barne das originale Konzept des fließenden Verkehrs weiterhin bewundert werden.
~ Danke für die Unterstützung unserer Recherche an Stadtarchiv Wunstorf, Wunstorfer Bauverein, Sonnenapotheke Wunstorf/Rüdiger Heß-Eichenberg. ~
Dieser Artikel erschien auch in Auepost #6 – März 2020
Tja leider die Tankstelle vergessen und den Schreibwarenladen
Genau. Gerade vor ein paar Tagen sprach ich darüber. Die Tankstelle! Ob jemand davon ein Bild hat?
Und natürlich der Schreibwarenladen!
Ein sehr interessanter Artikel
Danke für den wunderbaren Artikel. Seit 47 Jahren bin ich Bewohnerin der Barne und des Bauvereins. Die Geschichte der Barne kannte ich so nicht. Zu Anfang hatten wir alles an Geschäften, vom Tapeten -bis zum Blumengeschäft. Jetzt müssen wir, teilweise Gehbehindert ,mit Rollator , weite Wege in Kauf nehmen um an Täglich benötigte Sachen, Lebensmittel ,Kontoauszüge, ZB, zu kommen. Ich liebe die Barne , würde trotz allem immer wieder herziehen.
Ein sehr schöner und tiefgreifender Artikel über die Barne.
Nur mit der neuen Südstraße konnte ich nichts anfangen.
Bin gerade mit Erinnerungen aufgestanden. Es ist 6 Uhr früh ,also ging man zu Bäcker Hanisch (hintenrum) in die Backstube, holte frische Brötchen und eine Zeitung. Was für ein Service.
Statt Pollern oder Aufpflasterungen sah seine Planung vor, den Verkehr durch die Straßenführung selbst zu verlangsamen und dadurch letztlich flüssiger, leiser und umweltfreundlicher zu gestalten. Als größte Lärmquellen wurde das Bremsen, Anhalten, Anfahren und Rückwärtsfahren ausgemacht. Das Gegenmittel hierfür sollte ein möglichst fließender Verkehr sein: Wenn Autos ungehindert fahren könnten, würde der Verkehrslärm minimiert werden, so die Annahme. —–
Genau daran denke ich immer wenn kurz vor einer Abbiegung eine künstliche Verengung geschaffen wurde und ich wieder zurück setzen muss.
Ja, die gute alte Zeit mit fähigen Mitarbeitern in der Stadtverwaltung.
Hallo,
Ich habe mit großem Interesse den Beitrag gelesen. Ich habe 1967 mein Abi am Hölty gemacht und die Entwicklung der Barne miterlebt. Es gab damals einen Bauunternehmer oder auch nur Maurermeister namens Raecke oder Räcke, der in der Barne einen Bungalow gebaut hatte. Wenn ich mich recht entsinne fuhr man unter der zweiten Bahnunterführung hindurch, dann machte die Strasse einen 45 Grad Knick nach links. Genau hier auf der rechten Seite stand das Haus. Die Ehefrau des genannten starb noch recht jung in den sechziger Jahren. Sie hatten Mitte der 60er Jahre eine etwa 16 jährige Tochter namens Monika.
Kann sich jemand an diese Familie erinnern und mir näheres zum Verbleib sagen? Ich wäre für jegliche Informationen sehr dankbar.
Ein dickes Lob an die Redakteure. Weiter so. Bitte mehr Artikel über die Entstehung und die Sehnswürdigkeiten unserer Stadt.