An diesem Mittwoch ist sein Gefährt nicht so spektakulär wie der flunderflache Flitzer mit den Flügeltüren. Es ist auch kein Ferrari Testarossa. Hunke, mittlerweile 81 Jahre alt, kommt mit einem Modell der gehobenen Mittelklasse zur Otto-Hahn-Schule. Natürlich ist es weiß. Am Steuer seine zweite Ehefrau.
Der Rat tagt zum letzten Mal vor der Sommerpause und hat eine Tagesordnung mit etlichen bedeutenden Punkten. Es ist Eile geboten: Die Nationalmannschaft spielt. Für ein besonderes Thema ist aber genügend Zeit – „50 Jahre Verwaltungs- und Gebietsreform“. Dazu sind Ratsmitglieder aus der Gründerzeit eingeladen, auch Bürgermeister und frühere Hauptverwaltungsbeamte. Nicht alle sind der Einladung der Stadt gefolgt. Gekommen ist eine kleine Schar alter Männer. Der frühere Bürgermeister Axel Eberhardt ist mit 72 Jahren der jüngste. Georg Beier, einer seiner Vorgänger aus der Zeit, als es noch Stadtdirektoren als Verwaltungschefs gab, mit 86 der älteste.
Er ist es, der dem aktuellen Rat einen Einblick in die Zeit gibt, die mit der Schaffung der neuen Stadt Wunstorf am 1. März 1974 begann. Der Kolenfelder ist wie ein lebendes Archiv. Sein phänomenales Gedächtnis hält Daten, Ereignisse, Beschlüsse und Zitate bereit, als stammten sie aus jüngster Vergangenheit. Beier ist nicht als Bewunderer der aktuellen Polit-Szene bekannt, und das gilt auch für die Partei, für die er in viele Ämter gewählt wurde zwischen Gemeinderat und Kreistag. Zweimal war der CDU-Mann erster Bürger der Stadt. Er blickt auf Vergangenheit und Gegenwart mit den Augen eines Mannes, der mehr als ein halbes Jahrhundert Kommunalpolitik mitgestaltet hat. Für sehr wenige Andere trifft das in ähnlicher Weise zu.
Einer davon ist Kurt Rehkopf, der als Redner ebenfalls vorgesehen war. Der FDP-Politiker hat auch mehr als 50 Jahre die Geschicke der Stadt beeinflusst. Mehr noch: Er war niedersächsischer Handwerkspräsident, viele Jahre Landtagsabgeordneter und Vizepräsident des Landtags. Vor kurzem ist er 85 Jahre alt geworden. An der Ratssitzung kann er nicht teilnehmen. Seine alten Weggefährten vermissen ihn. Ersatz gibt es nicht. Die Zeiten, in denen die Liberalen in der Stadt Fäden gezogen haben und die Zügel in der Hand hatten, sind vorbei.
Auch für die SPD spricht in dieser Stunde im Rat niemand. Der Bokeloher Heinz Wellmann war eingeplant, ist aber verhindert, als das Gremium ganz offiziell zurückblickt. Etliche andere Genossinnen und Genossen aus den Jahren 1974 bis 1976 fehlen auch: Hannelore Vohl, früher Beulke, Wilhelm-August Otto, Wilhelm Pickert, Willy Voß und Harald Brandes – auch einmal Bürgermeister. Werner Stünkel und Hans Schettlinger sind zwar dabei, beschränken sich aber auf ein Gruppenfoto und Gespräche mit alten und neuen Kolleginnen und Kollegen.
So sind es drei Männer, die dieser „besonderen Sitzung“ – so Rolf Hermann, der Ratsvorsitzende – ihren Stempel aufdrücken: Bürgermeister Carsten Piellusch und Vorgänger Georg Beier mit Wortbeiträgen, Jürgen Hunke schlicht mit seinem Erscheinen. Piellusch macht mit seiner Sicht auf eine „spannende Zeit“ den Anfang, erinnert an die vorausgegangenen Termine zur Gebietsreform. „Schön und würdig“ seien die Aktionen zum Neubürgerempfang gewesen, auch das „Sonderthema beim Schützenfest“ und die Ausstellung in der Abtei. Der Bürgermeister wörtlich: „Stadtarchivar Klaus Fesche hat sich dabei verdient gemacht!”
Piellusch blickt auch auf die Anfänge: die konstituierende Sitzung des ersten Rates der neuen Stadt im Jahre 1974, die dreieinhalb Stunden gedauert habe, die Wahl von Fritz Röbbing aus Luthe zum Bürgermeister. Er versäumt nicht, die Widerstände und Wirrungen vor und nach dem Zusammenschluss zu erwähnen.
Beier resümiert anschließend auf persönliche Art die Ereignisse der neuen, großen Stadt nach 1974. Sein Streifzug gleicht einem verbalen Husarenritt, und er wird immer wieder konkret. Der Interimsrat, der nur von 1974 bis 1976 amtierte, sei „sofort ins kalte Wasser“ geworfen worden. Es sei in kurzer Zeit schnellstens viel zu entscheiden gewesen. Beier nennt das Ratskellergrundstück in Steinhude und das Hin und Her um die Bebauung, die problematische Bauphase des Wunstorfer Hallenbades, den Bau der Hauptverkehrsstraße, der Schulzentren an der Aue und in Steinhude, den Abschluss der Aueregulierung und das Sanierungsgebiet Stadtkirche.
Es sei „kaum zu glauben“, aber es sei alles bewältigt worden – „außer Iglo“. Immer neue Anliegerbeschwerden über die Lärmbelästigung in der Nacht hätten die Stadt und ihre Gremien vor viele Probleme gestellt. Der Umgang mit dem Konzern sei schwierig gewesen, denn ständig sei großer Druck ausgeübt worden. Stets habe die Werksleitung gedroht, die Produktion am Luther Weg einzustellen. Beier stellt die damaligen Abläufe als abschreckendes Beispiel dar und warnt davor, nachzugeben.
„Ich könnte den ganzen Abend erzählen!“, sagt der Alt-Bürgermeister, beschränkt sich aber auch mit Blick auf die Uhr auf wenige Episoden. Heute könne sich niemand mehr vorstellen, wie massiv die neue Stadt vor schwierige Aufgaben gestellt worden sei. Es sei eine „spektakuläre Zeit“ gewesen. Sein Fazit ist eindeutig: „Wir haben gemeinsam viel geschafft.“ Und das, obwohl sich bald weitere große Aufgaben ergaben und neue Probleme.
Eines davon nennt Beier beim Namen. Mit dem damaligen Stadtdirektor Rüdiger Michaelis habe es „immer Schwierigkeiten“ gegeben. Der promovierte Jurist hatte eine eigene Sichtweise auf seine dienstlichen Rechte und ebenso auf die Kompetenz des Rates der Stadt. Beier geht in dieser Stunde auf die heftigen Auseinandersetzungen mit dem jungen Verwaltungschef nicht näher ein. Aber er sagt einen Satz, der den Dauer-Konflikt beschreibt: „39 Hansel“ seien das im Rat, habe Michaelis einmal gesagt.
Einer sitzt unter den Zuhörern, der diese Zeit miterlebt und -gestaltet hat: als Ratsherr, als Fraktionsführer der CDU mit Ambitionen auf ein Landtagsmandat, im Vorstand der Partei. Aber Jürgen Hunke steht nicht auf der Rednerliste. Mehr oder weniger schweigsam hört er Piellusch und Beier zu. Einmal beugt er sich zu seiner Frau und sagt: „Wann hört der endlich auf? Der hat früher schon so viel geredet.“
Der Wahl-Hamburger gehört nicht zu den Leisen im Land. „Ich bin ja extrovertiert“, bekennt er später, als sei das nötig zu sagen. Als die alte Garde mit denen zusammensteht, die jetzt das Sagen in der Politik haben, ist Hunke mittendrin. Schon beim Betreten der Aula der Otto-Hahn-Schule hatten sich viele Köpfe gedreht, und es gab ein Raunen. Der frühere Versicherungschef ist sich treu geblieben – auch in der Kleidung: Wie schon in den 70er Jahren gibt es für ihn eigentlich nur zwei Farben, höchstens drei.
So auch an diesem Abend im Rat. Schwarzes Sakko mit rot eingefasstem Knopfloch und rotem Einstecktuch, schwarzes T-Shirt mit chinesischen Schriftzeichen, weiße Hose und schwarz-rote Lederschuhe. 35 Paare hat er davon, erzählt er den Weggefährten. Am Anfang hätten die Hamburger sich aufgeregt, jetzt machten sie es ihm längst nach.
Schwarz und Weiß waren ihm immer wichtig. Seine Partys unter diesem Motto waren legendär. Eintritt nur in Schwarz-Weiß. Bis hin zu den Kerzen. Farbe brachten nur die Gemälde seiner ersten Frau Ingrid in die großen Villen am Fischerweg oder an der Waldstraße.
Hunke redet an diesem Abend wie ein Wasserfall – über seine Kinder, die 15 Bücher, die er veröffentlicht hat, über Hamburg und den HSV, seine Projekte in Timmendorf und neue Pläne für einen lokalen Fernsehsender.
Die alten Kollegen – Wegbegleiter wie Widersacher – schwanken zwischen Amüsiertheit und Verwunderung. Alle Gesichter, Namen und Ereignisse sind ihm nicht mehr präsent. Die Zeit, in der er die CDU und die Stadtpolitik aufgemischt und polarisiert hat, in der er eine Schlüsselfigur war, liegt 50 Jahre zurück. Wie sagt einer, der dabei war und jetzt schmunzelnd gelauscht hat? „Er hat vergessen und verdrängt.“
Halten zu Gnaden, sehr geehrte Frau Brigitte. Der Autor dieses Textes ist selbst ein alter Mann. Er meint es ganz sicher nicht respektlos.
‚Gekommen ist eine kleine Schar alter Männer‘, liebe Auepost, das ist leider etwas despektierlich. Hätte man auch netter ausdrücken können.