Man kann es im Grunde nur so sagen: Das heutige Wunstorf ist ein Kunstgebilde. Wie allerdings hunderte andere niedersächsische Städte auch. In den 1970er Jahren wurde die Landkarte in Niedersachsen großteils neu geschrieben, und auch für Wunstorf änderten sich damals die Grenzen.
Wäre es auch anders denkbar gewesen? Hätte die Stadt selbst in eine andere Kommune eingemeindet werden können? Das stand nicht zur Debatte, aber wie groß Wunstorf am Ende wirklich werden würde, das war durchaus Teil der Überlegungen – und die damals noch selbstständigen Kommunen versuchten Einfluss zu nehmen, mit wem sie künftig eine Gemeinschaft bilden würden.
Wie und warum es damals so gekommen war und welche Folgen sich daraus für das neu entstandene Stadtgebilde ergaben, darüber sprachen am vergangenen Donnerstag Bernd Heidorn und Rolf-Axel Eberhardt in der Abtei im Rahmen der Heimatverein-Reihe zum Gebietsreformjubiläum. Professor Manfred Rasche moderierte wie üblich.
Es war damals die große Neuordnung in Niedersachsen, die Anfang der 1970er Jahre angegangen wurde, und zwar nicht nach dem Willen der betroffenen Städte und Gemeinden, sondern von der Landesregierung diktiert.
Der Plan war, aus den bis dahin existierenden über 4.000 niedersächsischen Kommunen nur noch etwas über 1.000 werden zu lassen. Denn über 2.000 dieser Gemeinden hatten damals weniger als 500 Einwohner. 5.000 Einwohner sollten das neue Minimum werden und damit landesweit eine modernere und effizientere Verwaltung möglich machen. Es war auch die Voraussetzung dafür, Verwaltungsaufgaben nicht mehr dem Ehrenamt zu überlassen, sondern größere Verwaltungen mit hauptamtlichen Mitarbeitern zu schaffen.
Die Kommunen waren damals teils so klein zugeschnitten, dass die – ehrenamtlichen – Bürgermeister Dokumente und Stempel in Ermangelung eines Rathauses zu Hause im Schrank hatten, erzählte Eberhardt eine Anekdote. Kleinere Gemeinden waren nach modernen Maßstäben nicht leistungsfähig genug. Eberhardt bewertete die damalige Neuordnung als Notwendigkeit – man könnte auch sagen: alternativlos. Vor allem dass die Reform „von oben“ durchgesetzt wurde, sei richtig gewesen: Anders hätten sich die Gemeinden wohl nie auf einen Nenner einigen können, so der Altbürgermeister: „Mit Abstimmungen hätten wir es nie geschafft.“ Die Quittung dafür habe jedoch die Landesregierung bei der nächsten Wahl bekommen.
Denn die Meinung der Bevölkerung wurde eingeholt und teils auch berücksichtigt, aber entschieden worden war letztlich nach den Empfehlungen einer Kommission auf Landesebene in Hannover: Es gab keine verbindlichen Abstimmungen einzelner Gemeinden für oder gegen den Zusammenschluss mit anderen Orten. Versuche, andere Zuschnitte auf der Landkarte zu bilden, scheiterten so auch allesamt im heutigen Wunstorfer Gebiet. Weder gelang es dem reichen Luthe, die Eigenständigkeit zu erhalten, noch konnte man in Groß Munzel die Kolenfelder überzeugen, sich weiter nach Osten zu orientieren. Auch aus einer angestrebten „Gemeinde Seeprovinz“ mit z. B. Steinhude, Großenheidorn und Hagenburg wurde bekanntlich nichts. Dabei hatten vor allem die Steinhuder und Großenheidorner auf keinen Fall mit Wunstorf zusammengehen wollen. Die Landesregierung nahm es zur Kenntnis, habe sich aber darüber hinweggesetzt, erzählte Eberhardt.
Am 1. März 1974 wurde aus dem kleinen Wunstorf also eine neue, größere Stadt – mit 9 neuen Ortsteilen. Sozusagen über Nacht wurde aus der Kleinstadt im ehemaligen Landkreis Neustadt eine Mittelstadt im vergrößerten Landkreis Hannover, der später mit der Stadt Hannover zur gemeinsamen Region Hannover werden sollte. Denn auch die Landkreise wurden neu zugeschnitten und teils aufgelöst. Zuletzt hatte es davor auf dem Gebiet des heutigen Wunstorfs 1928 eine kleine Gebietsreform gegeben, berichtete Eberhardt – als nämlich etwa Cronsbostel und Liethe ihre Eigenständigkeit verloren hatten.
In den heutigen Ortsteilen und damals noch selbstständigen Gemeinden war man wenig begeistert, denn „Wunstorf hatte einen schlechten Ruf“, so Eberhardt. Vor allem Luthe war wegen seiner Industrieunternehmen und den entsprechenden Steuerzahlungen deutlich reicher als die heutige Kernstadt. Aber nicht nur Luthe fürchtete den Einflussverlust in der neu zu begründenden Stadt, auch in den anderen Orten, die nach Wunstorf eingemeindet werden sollten, wurde es auf einmal hektisch. Bevor man die Hoheit über die eigenen Finanzen verlor, wurden sie schnell noch für Projekte im eigenen Ort eingesetzt. Als absehbar wurde, dass man die Eigenständigkeit verlieren, sich künftig in einem größeren Verbund mit anderen Interessen auseinandersetzen müssen würde, wurde man kreativ. Vor allem Luthe gelang dabei ein Husarenstück.
„Luthe hat den Vogel abgeschossen“
In Bokeloh wurde noch 1972 ein Freibad gebaut, in Großenheidorn 1974 die Mehrzweckhalle fertiggestellt. In Klein Heidorn entstand ein Freizeitheim, in Blumenau ein Dorfgemeinschaftshaus. Den Vogel abgeschossen habe jedoch Luthe, sagte Eberhardt, und zählte die Liste der Baumaßnahmen auf: Ein Freibad, ein Kindergarten, eine Friedhofskapelle sowie neue Schul- und Sportanlagen wurden errichtet. Dazu habe man bei der Gewerbesteuer getrickst, berichtet Eberhardt: Eine fast millionenschwere Summe habe später die neue Gesamtstadt erstatten müssen, weil der Steuersatz vorübergehend zu hoch angesetzt worden war. Luthe habe damit jedoch zunächst einmal ausreichend Geld gehabt für seine Bauvorhaben. Aber auch das alte Wunstorf nahm sich beim gebietsreformverursachten Bauboom nicht aus und baute noch schnell das heutige Hallenbad – bei dem dann kurz nach Fertigstellung das Dach eingestürzt sei.
Ein eigenes Hallenbad im Ort habe sich auch Steinhude noch schnell spendieren wollen, erzählte Eberhardt, doch das ging schief. Der Landkreis Schaumburg, zu dem Steinhude damals noch gehörte, habe interveniert, dort hätte man gesagt: „Die geben so viel Geld aus, das geht überhaupt nicht“, so Eberhardt. Die Folge war die versuchte Einsetzung eines Staatskommissars, der die Finanzen in Steinhude überwachen sollte. Was allerdings noch gelang, war die Weichenstellung für das spätere Schulzentrum. Nur einen Tag vor der Gebietsreform seien dafür die Verträge unterzeichnet worden – „da konnte die Stadt Wunstorf nichts mehr machen.“
Auf diese Weise hatte die neue Stadt Wunstorf vom ersten Tag ihres neuen Bestehens an gleich neue Schulgebäude in Aussicht, aber z. B. auch 5 verschiedene Schwimmbäder. Und 10 verschiedene Feuerwehren. Auch Dorfstraßen hatte man plötzlich reichlich, die nun bis auf eine umbenannt werden mussten, um künftige Verwechslungen zu vermeiden.
Verwaltungstechnisch wurde nun vereinheitlicht in der Stadt, anfänglich durchaus noch recht holprig, wie Eberhardt zu berichten wusste: Die Gesamt-Wunstorfer Bauverwaltung kam nicht ins Zentrum, sondern nach Luthe, ins heutige Volkshochschulgebäude. Nur für den Fachbereich Hochbau war kein Platz mehr – der kam zur Kläranlage, bevor schließlich die alte Stadtschule frei wurde und alles ins Zentrum zurückverlegt wurde. Auch die Hochbauer durften mit zurück.
In der Anfangszeit nach der Gebietsreform gab es in Wunstorf auch noch Verwaltungsaußenstellen – den größeren Ortsteilen wie Bokeloh, Kolenfeld oder Steinhude war man entgegengekommen, deren Bewohner sollten für Rathaustermine nicht unbedingt in die Kernstadt fahren müssen. Eberhardt gab vor dem Publikum zu, für die spätere Zentralisierung verantwortlich gewesen zu sein: Als Bürgermeister habe er alle Außenstellen dann abgeschafft – als die Nutzung rapide zurückgegangen war. Gestärkt worden waren dafür die Ortsräte: Sie bekamen z. B. das alleinige Recht, über die Benennung von neuen Straßen zu entscheiden.
Bernd Heidorn, der im Stadtrat der neuen Stadt Wunstorf lange Jahre CDU-Fraktionsvorsitzender war und Ehrenortsbrandmeister ist, legte einen Fokus auf die Errungenschaften, die im größeren Wunstorf infolge des Zusammenschlusses erst möglich wurden, denn die Altstadtsanierung, den Bürgerbürobau und die Errichtung der Fußgängerzone hätte es in einem „Klein-Wunstorf“ so wohl nicht gegeben. „Es ist uns eine gute Arbeit gelungen“, blickte Heidorn auf die damalige gesamtstädtische gemeinsame Ratsarbeit zurück. Es sei eine Zeit wie im Schnelldurchlauf mit vielen grundlegenden Entscheidungen gewesen – in heutiger Zeit sei alles fertig, der Stadtrat müsse sich um wenig Neues kümmern. Im Endeffekt habe man alles richtig entschieden und die Stadt Wunstorf sei deshalb heute so, wie sie ist.
Den Stadtgraben-Abriss betrachtete Eberhardt allerdings wehmütig: Man hätte schon damals die Nordumgehung bauen sollen, um die zwei Bundesstraßen aus der Innenstadt herauszubekommen – aber nicht die Hochstraße, die in seinen Augen eine Fehlentwicklung sei. Der Spannbeton habe eine begrenzte Lebensdauer. Man hätte jedoch damals unter den Händlern geglaubt, dass die Menschen nur dann zum Einkaufen kommen, wenn man auch den Autoverkehr in die Stadt lenkt. „Das glauben sie heute noch“, schickte Rasche eine Spitze in Richtung Werbegemeinschaft.
Mit der bekannten Fragerunde am Ende der Heimatverein-Vorträge entwickeln sich oft noch sehr interessante Diskussionen – denn das Publikum ist in der Regel sehr fachkundig oder gehört sogar zu den Zeitzeugen. So auch diesmal, als Georg Beier, ebenfalls ehemaliger Bürgermeister, aus dem Publikum heraus die Kolenfelder Sicht auf die Dinge hinzufügte – und den zwei Vorträgen des Abends damit beinahe noch einen dritten bescherte.
In Kolenfeld wäre die Mehrheit nämlich nicht gegen ein Zusammengehen mit Wunstorf gewesen, auch nicht die Landwirte – obwohl es durchaus andere Optionen gegeben hatte. So habe vor allem Groß Munzel versucht, die Kolenfelder für sich zu gewinnen. Auf damaligen Versammlungen im Gasthaus Kuckuck habe es aber geheißen: „Bloß nicht nach Groß Munzel.“ Die eigenen Kinder wollte man z. B. auch nicht nach Barsinghausen zur Schule schicken müssen.
Heutzutage existiert ein Gesamt-Wunstorfer Selbstverständnis, trotz fortbestehender starker Identität in den Ortsteilen ist man eine gemeinsame Stadt. Mit Martin Ehlerding führt ein Großenheidorner die SPD-Fraktion, mit Christiane Schweer eine Steinhuderin die CDU-Fraktion im Rat. Man arbeitet gemeinsam für das Vorankommen der Stadt, auch wenn immer wieder einmal der Vorwurf aufkommt, dass man in der Kernstadt zu zentralistisch agiert und darüber die Ortsteile vergisst. Aber es gibt viele Hinweise, die noch auf die alten Strukturen und Zugehörigkeiten hindeuten – seien es die Farben in den Wappen der Ortsteile, das Brauchtum oder eben die Existenz von zehn verschiedenen Feuerwehren in der Stadt – die als Stadtfeuerwehr heute natürlich im Verbund die Brände bekämpft.
Dazu hatte Ehrenortsbrandmeister Heidorn noch eine Anekdote parat: Als damals zu einem Scheunenbrand in einem der neuen Ortsteile auch die Kernstadtfeuerwehr angerückt sei, habe die dortige Feuerwehr den Wasserstrahl erst einmal auf ihn gerichtet. Die Botschaft sei klar gewesen: „Wir brauchen die Wunstorfer nicht, wir bekommen unser Feuer auch alleine aus.“
Die Gebietsreform war gewollt. Aber bei der Durchführung wurden viele Fehler gemacht ,bzw. hat die Kernstadt viele eigene Interessen durchgesetzt. Einer der größten Fehler war die Ausbremsung der Infrastructure in den Ortsteilen. So wurde festgelegt , das nur in der Kernstadt neue Baugebiete ausgewiesen werden durften. Für Steinhude galt das nicht , da sich die Steinhuder ihren Anschluss an die neue Stadt mit Mee(h)r vorher ausgehandelt hatten. Auch Luthe konnte sich mit der angeblichen Begründung der Bahnhofsnähe seine Baugebietsvorteile erhalten. Diese beiden Ortsteile konnten dadurch ihre Infrastruktur enorm entwickeln. Die anderen Ortsteile wurden durch die fehlenden Baugebiete in ihrer Entwicklung ausgebremst . Der Kernstadt hat das nicht viel geholfen ,das Einwohnerverhältnis ist heute wie damals 50% Kernstadt und 50% Umlandgemeinden. Das Mee(h)r ist immer noch in Steinhude .,obwohl es denen zumindest an Sonn- und Feiertagen nicht mehr passt. Wunstorf sollte seine Gemeinden mal einen ,vielleicht über eine Arbeitsgruppe , in der erst mal alle Ihre Ideen einbringen können. Über die Vertreter im Ortsrat ist das nicht möglich.