Die Weihnachtszeit hat offiziell noch nicht begonnen, doch im Handel ist sie schon lange angekommen: Spekulatius, Lebkuchen und Marzipanbrote türmen sich in den Regalen und Sonderaufstellern in den Gängen.
Der vorweihnachtszeitlichste Ort ist derzeit jedoch wahrscheinlich die Wunstorfer Abtei: Ein golden dekorierter Weihnachtsbaum funkelt durch die erleuchteten Fenster, klassische Musik dringt aus der Tür. Was vom Veranstalter als „Verkaufsausstellung“ beschrieben wurde, ist für Wunstorfer Verhältnisse im Grunde eine Fachmesse für Räuchermännchen und allerlei Jahresendflügelfiguren, wie Engel angeblich zu DDR-Zeiten von staatlicher Stelle genannt worden sein sollen.
Der Veranstalter, das ist Detlef Kuhrt, und er zeigt und verkauft nicht nur hölzerne Figuren für die Weihnachtszeit. Kuhrt lässt mit Anekdoten und Wissen die Figuren fast lebendig werden, erzählt ihre Geschichten und ihre Geschichte. Manche der Hersteller, deren Figuren nun in der Abtei zwischen Tannengrünzweigen aufgereiht stehen, gebe es gar nicht mehr, erzählt der Wunstorfer. Denn die Branche habe es durchaus schwer, es werde schwieriger, für die Produkte dieses Kunsthandwerkes noch die angemessenen Preise aufzurufen. Vor allem Sammler würden sich teurere Objekte noch leisten, doch auch die würden weniger.
Mit weißen Haaren, weißem Bart und umgehängter lederner Kassierergeldbörse steht Kuhrt am Rande der Ausstellung. Gegen das Fotografieren seiner Figuren hat er nichts einzuwenden, nur selbst mit aufs Bild, das kommt für ihn vehement nicht in Frage. Seine Engel, Räuchermänner und Nussknacker gehören für ihn in den Mittelpunkt. Unzählige Pappkartons und Schachteln stapeln sich in der Abtei, auf Tischen in einem großen Halbrund, das den Raum fast in voller Breite ausfüllt, ist die Schar der Figuren zum Bestaunen versammelt. „Erzgebirge“ steht auf einem Holzschild in der Mitte dazwischen. Die Holzfiguren sind jahrhundertealte Tradition, ursprünglich geschnitzt, in späteren Jahrhunderten gedrechselt.
Kuhrt selbst ist kein Sammler, war nie einer, und hat doch Hunderte von Holzfiguren und auch das Wissen über sie parat. Bis 2019 war er Händler, verkaufte jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt der hessischen Landeshauptstadt seine Figuren aus dem Erzgebirge. Die Liebe hatte ihn schon vor 40 Jahren nach Wunstorf geführt, doch dem Wiesbadener Weihnachtsmarkt blieb er ebenfalls treu. „Einen solchen Stand gibt man nicht auf“, sagt er, wenn man als Händler eine entsprechende Nische habe, dann wäre ein geschäftlicher Ortswechsel keine Option. So fuhr er von Wunstorf weiter nach Wiesbaden, um Erzgebirgskunst zu verkaufen.
Doch mit der Coronapandemie endete auch für ihn dieses Kapitel seines Lebens. „Ich kann es seitdem nicht mehr“, sagt Kuhrt, ohne ins Detail zu gehen.
Wer nun denkt, er verkaufe in der Wunstorfer Abtei auf Kommission, der irrt. Es ist immer noch sein komplett eigener Warenbestand, den er hier ausstellt und anbietet – teilweise deutlich unter aktuellen Marktpreisen. Mancher Nussknacker und manches Räuchermännchen hat er um fünfzig Prozent und mehr reduziert.
Nicht mehr im Angebot ist jedoch die Blaue Mauritius unter den Holzengelfiguren: Als ein Hersteller eine neue Variante einer Engelsfigur aus der Serie eines Engels-Orchesters geschaffen hatte, war es zu einem Farbirrtum gekommen: Der Saxophon-Engel spielte auf einem silberfarbenen Instrument. Kuhrt selbst hatte daraufhin beim Hersteller nachgefragt – und ab der nächsten Saison hatte die Firma das Produkt tatsächlich auf ein messingfarbenes Saxophon geändert. Die Erstauflage ist nun umso begehrter – auf Ebay wird die Figur für das Zehn- bis Fünfzigfache des Originalpreises gehandelt.
Selbst gesammelt hat Kuhrt zwar nie, aber er klingt beim Erklären der Figuren fast wie ein alter Sammler. Welche Figur zu welchem Hersteller gehört, für welche Besonderheiten der Figuren welche Kunsthandwerksfirma typisch ist, was die Augen der Nussknacker verraten und welche der Objekte welches Geheimnis haben, das erzählt er aus dem Effeff.
Kuhrt erklärt den Unterschied zwischen Figuren aus Brotteig und Holz und führt das Spezielle der unterschiedlichen Bauweisen direkt vor, betont die Feinheit der Arbeiten selbst an den kleinsten Figuren, die noch kleinere Dinge halten: „Sehen Sie irgendwo Klebstoff?“ Manche der Figuren bestehen aus vielen Materialien, manche haben sogar Lederverzierung. Zum tatsächlichen Benutzen im Grunde viel zu schade. „Die meisten Sammler haben einen oder zwei zum Benutzen, die anderen werden gesammelt“, hat Kuhrt die Antwort. Hat er schon einmal überlegt, Eintritt zu nehmen für die Vortragskunst, die er persönlich dem Verkauf beisteuert? „Nein, das gehört dazu“, sagt er ebenso bescheiden.
„Jede Figur hat einen einzigartigen Blick“
Detlef Kuhrt
Und er nimmt es genau. Wer eine weibliche Figur Räuchermännchen nennt, wird korrigiert: „Eine Räucherfrau!“ Die Faszination leuchtet in seinen Augen. Er greift nach einer Engelsfigur und lenkt den Blick auf die Gesichter: „Keines sieht aus wie das andere, jede Figur hat einen einzigartigen Blick.“ Tatsächlich hat der eine Engelskopf mehr Haaransatz, die Augenbrauen stehen anders, die Augen sind mal kleiner, mal größer. Es ist das Zeichen echter Handarbeit, das sich hier beweist.
Manchmal muss Kuhrt aber auch ganz praktische Hilfe geben, wenn eine Käuferin oder ein Käufer noch keine Erfahrung hat mit dem Befüllen von Räuchermännchen. Denn eigentlich ist es ganz simpel, doch man muss wissen, wie es richtig geht.
Es sei schon vorgekommen, dass jemand am nächsten Tag wieder vorbeikam und ein Räuchermännchen reklamiert habe, da es angeblich nicht richtig funktionierte – dabei war die Figur nur zu schnell geschlossen worden, noch bevor die Räucherkerze darin vor dem benötigten Glimmen einmal richtig gebrannt habe. Doch statt die Ursache bei der Kerze zu sehen, wurde das Räuchermännchen verdächtigt – und tatsächlich noch ein weiteres Belüftungsloch gebohrt, um den vermeintlichen Fehler zu beheben. Kuhrt konnte aufklären, doch Sammlerwert hatte die beschädigte Figur nun definitiv nicht mehr.
Während Kuhrt erzählt, schleicht eine Interessentin an den Tischen entlang und begutachtet und vergleicht die Exponate. Sie hatte sich schon zuvor in eine der Figuren verguckt und ist nun noch einmal wiedergekommen. Ein Verkaufsgespräch bahnt sich an.
Auch das Verbrauchsmaterial, die kleinen Räucherkerzen, die selbst wie ein kleiner Tannenbaum aussehen, können eine Wissenschaft für sich sein. Kuhrt zeigt auf eine Schachtel in Pyramidenform, dessen Hersteller jedes Jahr einen neuen Duft herausbringe. Die jeweilige Komposition sei damit nur für eine kurze Zeit erhältlich, dann gebe es schon wieder einen neuen Duft.
Welches ist das beste Räuchermännchen schlechthin, welche Figur von welcher Manufaktur müsste man unbedingt haben? Kuhrt überlegt einen Moment und bestätigt dann unsere Vermutung, dass die Frage bereits falsch gestellt ist: Einen Favoriten könne er nicht nennen, das sei unglaublich schwer – und es würde den anderen Herstellern auch Unrecht tun. Denn auf ihre Weise seien alle Figuren etwas Besonderes.
Der Nachtwächter ist mir ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Grins. Nur den Bart müsste ich noch etwas wachsen lassen.