Wunstorf (as). Vor geladenen Gästen hat Stadtarchivar Klaus Fesche am Donnerstagabend in der Abtei „Wunstorfer Aufbrüche“ vorgestellt, die neue Chronik von Stift und Stadt. Auf 188 Seiten reiht sich das Buch laut Fesche in „ansprechender und gleichzeitig robuster Gestaltung und Ausstattung“ in die Serie bisheriger Veröffentlichungen ein. Reich bebildert spannt es einen Bogen vom Stift als Kristallisationspunkt der Stadtentwicklung bis zu Gebietsreform und Fliegerhorst. Acht Autoren und eine Autorin beschreiben markante Wendepunkte. Auch Beispiele für Bürgersinn und privates Engagement werden beleuchtet.
Es ist dieses Schlusskapitel mit den Schilderungen bürgerschaftlichen Einsatzes, das das Buch von üblichen Chroniken unterscheidet. Privates Engagement, so Fesche, sei Kennzeichen von Demokratien: „Diktaturen lassen Initiativen und Selbstorganisationen aus der Bevölkerung eher nicht zu. Dort, wo die staatliche oder kommunale Verwaltung – aus welchen Gründen auch immer – nicht tätig wird, wo sich blinde Flecken oder Versorgungslücken zeigen, bleiben wichtige Bedürfnisse ungestillt ohne die Eigeninitiative beherzter Menschen.“ Das Buch zeigt sechs Beispiele: den Arbeitskreis Asyl und Integration, den Verein Frauen für Frauen, die „Wohnwelt“, das Forum Stadtkirche, das Luther Naturbad und den Dorfladen Bokeloh.
Fesche und sein Archiv-Kollege Hinrich Ewert, der als Mit-Herausgeber verantwortlich zeichnet, räumten schon am Abend der Präsentation ein, die Auswahl der Initiativen habe schon vor der Veröffentlichung Kritik ausgelöst. Die Vielfalt kultureller Aktivitäten sei nicht angemessen gewürdigt. „Wir konnten es eigentlich nur falsch machen“, sagt Ewert dazu. Das sei dem Autorenteam klar gewesen. Die beschriebenen herausragenden ehrenamtlichen Projekte seien als Beispiele gedacht – „und auch als Anregung für eine weitere Veröffentlichung“, ergänzte Fesche.
Die Chronik geht auf Anregungen von Bürgermeister Rolf-Axel Eberhardt zurück, der das bei der Präsentation auch stolz in seinen Redebeitrag einfließen ließ. Die vorherigen chronistischen Betrachtungen der langen Wunstorfer Geschichte seien „nicht unbedingt der Brüller“ gewesen, meint Eberhardt. Eine neue Variante sei ihm deshalb wichtig gewesen. Der scheidende Bürgermeister hat die Entstehung aktiv begleitet und unterstützt. Auf seinen Wunsch ist dem Fliegerhorst ein ganzes Kapitel gewidmet worden. Dessen Verfasser ist Heiner Wittrock, Bundeswehr- und Geschichtskenner, Autor mehrerer Bücher über das Landeskrankenhaus, die Luftbrücke, den Fliegerhorst und jüdische Schicksale aus Wunstorf.
Dem Anlass „1150 Jahre Wunstorf“ entsprechend, beginnt das Buch mit zwei Kapiteln von Eberhard Kaus. Der ehemalige Hölty-Pädagoge ist Latein-Experte und Autor von Aufsätzen zur Regionalgeschichte. Kaus ruft die Anfänge des Stifts in Erinnerung und die der Siedlung, aus der später die Stadt Wunstorf wurde. Sein zweites Kapitel behandelt die Reformation und ihre Durchsetzung „im Wunstorfischen“.
Dirk Neuber, Leiter des Niedersächsischen Instituts für Regionalgeschichte und aktiv im Heimatverein, beschreibt die Entwicklung von Wunstorf nach dem Dreißigjährigen Krieg, als sich die zerstörte und völlig verarmte Stadt auf den Weg in die Neuzeit machte. Wirtschaftliche, politische und geistig-kulturelle Veränderungen bereiteten den Boden dafür, dass sich Wunstorf allmählich aus der Armut lösen konnte. Aber erst Eisenbahnbau und Industrialisierung machten Wunstorf zu einer prosperierenden Stadt. Darüber hat Hinrich Ewert geschrieben. Ewert schildert, wie rasant die Stadt wuchs, so stark wie nie zuvor. Der Bahnhof öffnet das Tor zur Welt, und an Bahnhofstraße und Umgebung entstand die „Bahnhofsrepublik“, ein bedeutendes Gewerbe- und Industriequartier.
Revolution, Arbeiterbewegung, Soldatenrat, Frauenbewegung: Das sind die Themen, denen sich Stadtarchivar und Herausgeber Klaus Fesche widmet. Sein Beitrag heißt „Neues Personal für neue Politik“ und erinnert an einen Aspekt des Wunstorfer Aufbruchs in die Weimarer Republik. Bernd Riedel, Historiker, Lokalredakteur und Buchautor, zeichnet für die Beschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Sein Kapitel über einen weiteren Aufbruch gibt einen Einblick in die Verhältnisse nach dem Sturz des NS-Regimes und den Systemwechsel. Ein Fazit: Die Bereitwilligkeit zur Mitgestaltung war nach dem Einmarsch der Alliierten am 7. April eine unfreiwillige. „Die freiwillige sollte erst Jahre später folgen.“
Norbert Tornows Beitrag behandelt ein Spezialthema – die Wunstorfer Schulgeschichte. Als Bildungsstandort, so der Autor, habe die Stadt stets einen Vorsprung vor Nachbarorten gehabt: Lehrerseminar, Scharnhorstschule, Hölty-Gymnasium, evangelische IGS. Der Verfasser ist Diplompädagoge und hatte Führungspositionen im Justizvollzug. Er arbeitet im Team der Stadtführer mit. Die Gebiets- und Verwaltungsreform 1974 ruft der Text von Albert Tugendheim, Historiker, Germanist und ehemaliger Lokalredakteur, in Erinnerung: Vor diesem staatlich verordneten Aufbruch gaben die alten Dörfer noch viel Geld aus – für Freibad oder ein Freizeitheim. Steinhude schaltete gar das Bundesverfassungsgericht ein, um nicht nach Wunstorf eingemeindet zu werden.
Einzige Frau im Autorenkollektiv ist Cornelia Oestereich. Die ehemalige Chefärztin der Allgemeinpsychiatrie und Ärztliche Direktorin des Klinikums beschreibt die Reform der Großklinik Landeskrankenhaus aus eigenem Miterleben und eigener Mitgestaltung. Es wird deutlich, wie aus der „Anstalt“ an der Südstraße eine moderne, offene Klinik wurde, wie Wunstorf zu einem Ausgangspunkt der Psychiatriereform wurde. Unter der Leitung von Asmus Finzen war auch das ein Aufbruch.
Fesche sagt, in alten Städten wie Wunstorf habe es immer Aufbrüche gegeben, „die ganz individuell nur bei ihnen stattgefunden haben“. Ein solcher Startpunkt, zunächst lokal begrenzt, sei für Wunstorf die Stiftsgründung gewesen. Das genaue Datum sei nicht bekannt, aber die Urkunde Ludwigs des Deutschen von 871, deren Unterzeichnung am 14. Oktober jetzt gefeiert werde, sei ein Orientierungsdatum.
Das Cover des Buches zeigt in Schwarz-Weiß das historische Foto eines Richtfestes, bei dem über den Dächern der Stadt auf einem Neubau die Richtfestkrone angebracht ist - und symbolisiert damit den Aufbruch auch bildlich. Damals soll es der höchste Punkt in Wunstorf gewesen sein.
Ewerts und Fesches Buch mit den Texten ausgewählter Autoren ist der gelungene Versuch Wunstorf-spezifische Aufbrüche in den Zusammenhang mit großen historischen Veränderungen zu stellen. Das ist ein gravierender Unterschied zu bisherigen „Chroniken“. Das Buch kostet 19 Euro und ist von Montag, den 18. Oktober an im Buchhandel und im Stadtarchiv zu kaufen.
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