Der Name von Unger hatte einen guten Klang in der Stadt: Eleonore, genannt Lore, von Unger führte seit den Nachkriegsjahren und für lange Zeit das DRK. Sie organisierte Blutspendetermine und vieles mehr. Ein Kindergarten in der Barne ist nach ihr benannt. Ihr Ehemann Karl blieb in ihrem Schatten – gewollt. Dabei hätte er es verdient, gewürdigt zu werden: Er gehörte zum Kreis derjenigen, die vor 80 Jahren, am 20. Juli 1944, vergeblich versucht hatten, Adolf Hitler zu töten.
Im August 1944 ist er Oberst und Chef des Stabes bei Infanterie-General Dietrich von Choltitz, dem Stadtkommandanten von Paris. Es sind hektische Tage: In Berlin und im ganzen Reich wird gnadenlos nach Unterstützern und Sympathisanten der Attentäter um Claus Schenk Graf von Stauffenberg gesucht. Auch im besetzten Paris, wo die Stadtkommandantur im Le Meurice untergebracht ist, dem ältesten Luxushotel der Stadt. Rund um den von Hitler eingesetzten Kommandanten, Generalleutnant Hans von Boineburg-Lengsfeld, haben sich Offiziere zusammengefunden, die in engem Kontakt mit Stauffenberg und den Berliner Verschwörern stehen.
Der General, Oberst von Unger und weitere Offiziere aus dem Stab sind einbezogen in die Pläne, Hitler in seinem Hauptquartier mit einer Bombe umzubringen und beteiligen sich aktiv daran, das Unternehmen Walküre, die Umsturzpläne, auch in Paris umzusetzen: SS- und SD-Offiziere werden reihenweise festgesetzt – später als Übung deklariert, weil Attentat und Putsch scheitern.
Die Offiziere aus der Kommandantur sind vorsichtig und geschickt. Ihre Rolle bleibt unentdeckt und wird erst nach Kriegsende bekannt, als deutsche Generäle in England inhaftiert und verhört werden. Dem Organisationstalent des Stabes um von Unger ist es zu danken, dass die Pläne für den Putsch nirgendwo so weitgehend umgesetzt werden wie in Paris. 1.200 Männer aus SS und SD, Gestapo und Polizeiführung werden inhaftiert. Der Stadtkommandant und sein Stab haben „enormes Glück“, wie es in Berichten heißt. General Carl-Heinrich von Stülpnagel, der Militärbefehlshaber in Frankreich, schweigt darüber, Generalleutnant Hans Speidel, der Stabschef des Oberbefehlshabers West, deckt die Verschwörer, und ein wichtiger SS-Gruppenführer macht aus unbekannten Gründen kein Aufheben von seiner Festnahme. Der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, wird nach Ermittlungen des Regimes abgesetzt und nimmt sich das Leben. Von Stülpnagel versucht vergeblich, sich umzubringen, erblindet und wird noch im August hingerichtet.
Oberst von Unger bleibt Stabschef, auch als Stadtkommandant Hans von Boineburg-Lengsfeld abgelöst wird und von Choltitz kommt. Die Wogen nach dem Anschlag auf Hitler sind noch nicht geglättet, da beginnen im besetzten Paris ähnlich schicksalhafte Tage: Die Alliierten rücken vor, und Hitler gibt den Befehl: „Paris muss brennen.“ Die Stadt sei zu halten, koste es, was es wolle. Gelinge das nicht, sei der Stadtkommandant verpflichtet, sie in Schutt und Asche zu legen. Der General lässt Vorbereitungen treffen: Pioniere bereiten die Brücken der Stadt zur Sprengung vor, Bombergeschwader werden vorgewarnt.
Von Choltitz ist nicht irgendjemand in Hitlers Generalstab. Er hatte sich bei der Eroberung Rotterdams einen Namen gemacht, war mit Kampftruppen an der Westfront, und Hitler behandelte ihn nach der Eroberung der Krim-Stadt Sewastopol, die damals als stärkste Festung der Welt galt, wie einen Helden. Von Choltitz hatte nie einen Befehl des „Führers“ missachtet, auch nicht die härtesten. Aber im Meurice wird aus dem Saulus ein Paulus. Hitler hatte ihn in die „Wolfsschanze“ nach Ostpreußen kommandiert und 2.500 Kilometer reisen lassen, um ihm höchst persönlich die Bedeutung von Paris klarzumachen. In Augenzeugenberichten heißt es, Hitler habe wieder einmal getobt und geschrien. Seine Philippika bewirkt bei von Choltitz das Gegenteil: Aus dem treuen Gefolgsmann wird ein Zweifler. Als er die Wolfsschanze verlässt, sagt er zu seinem Fahrer: „Beten Sie. Was mich in Paris erwartet, ist furchtbar.“ Aus dem Zweifler wird ein Saboteur.
Während eine Vorausabteilung der französischen Panzertruppe in die Vororte von Paris eindringt und sich die 22.000 deutschen Soldaten der Garnison in 16 Stützpunkten verschanzen, verzögern von Choltitz und von Unger Hitlers Befehle oder missachten sie ganz. Nach Berlin berichten sie Belanglosigkeiten. Der Kommandierende General geht mit Raffinesse und konspirativem Geschick ans Werk. Er beginnt geheime Gespräche mit dem schwedischen Generalkonsul Raoul Nordling. Nordling hat beste Kontakte zu den Alliierten, der Résistance und der Führung der Freien Französischen Armee unter General Charles de Gaulle.
Nordling und der Stadtkommandant beraten tagelang immer wieder die Lage, und schließlich gelingt es dem schwedischen Diplomaten, den zögernden General zu überzeugen, dass die Welt ihm und Deutschland die Zerstörung der Stadt niemals verzeihen werde. Noch am 15. August hatte Hitler befohlen, Paris aufzugeben: Alle Stäbe sollten die Stadt verlassen, und Feldmarschall Walter Model verlangte von von Choltitz, Paris auszuradieren. Doch der einst harte Ostfrontkämpfer wählt einen anderen Weg – mit Oberst Karl von Unger an seiner Seite: Am 25. August kapituliert er im Hotel. Eine Stunde später unterzeichnet er in der Polizeipräfektur die Kapitulation. Nach 1.530 Tagen deutscher Besetzung ist Groß-Paris frei.
Von Choltitz und sein Stab übergeben eine weitgehend unzerstörte Stadt: Paris bleibt das Schicksal Stalingrads, Warschaus und Berlins erspart. Die Zahl der Opfer ist vergleichsweise gering. Die deutschen Offiziere werden gefangen genommen. In England wird von Choltitz wie andere Generäle der Wehrmacht vernommen. Für einige Historiker wird er zum Retter von Paris. Den Führerbefehl sabotiert zu haben, bringt ihm jedenfalls Achtung und Respekt ein. Frankreich ernennt ihn zum Ritter der Ehrenlegion.
Karl von Unger werden keine Ehrungen zuteil. Der ehemalige Stabschef der Stadtkommandanten von Paris lebt nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod zurückgezogen in Wunstorf im Haus der Familie an der Georgstraße. Von seinem Wirken im Kreis der Verschwörer um Stauffenberg wissen nur wenige Menschen in seiner Heimatstadt. Auch seine Rolle während der zehn Schicksalstage im August 1944 in Paris wird kaum bekannt.
Von Unger stammt aus einem Adelsgeschlecht aus dem Erzgebirge, dessen Ursprünge ins Jahr 1587 reichen. Karl von Unger wird 1890 in Hamburg-Altona geboren. Wie etliche Vorfahren und seine Brüder wird er Soldat. Er zeichnet sich beim sogenannten Sturm auf Ypern 1914 aus, wo er schwer verwundet wird. Seine Ausbildung zum Diplom-Ingenieur führt ihn zwischen den Weltkriegen in den Vorstand der Dyckerhoff-Werke nach Poggenhagen. Karl von Unger stirbt 1987 im Alter von 97 Jahren in seinem Haus.
Die letzten Tage der deutschen Besatzung von Paris werden relativ geschichtstreu in mehreren Filmen thematisiert. René Clémont, Gore Vidal und Francis Ford Coppola versammeln 1966 für „Brennt Paris?“ in einer amerikanisch-französischen Produktion alles, was in der internationalen Filmbranche Rang und Namen hat. Mit dabei sind unter anderen Jean-Paul Belmondo, Alain Delon, Kirk Douglas, Orson Welles, Jean-Louis Trintignant, Glen Ford, Yves Montand und Simone Signoret. Gert Fröbe spielt von Choltitz. Schon ein Jahr früher hat Rudolf Jugert in Deutschland den Film „Paris muss brennen“ gedreht. Der renommierte Wolfgang Büttner stellt den General dar, Kurd Pieritz, ein Edgar-Wallace-Spezialist, den Oberst. Eine sehenswerte Variante ist Volker Schlöndorffs kammerspielartiger Film „Diplomatie“, in dem sich André Dussollier als Nordling und Niels Arestrup als von Choltitz in einem fiktiven Wortduell gegenüberstehen.
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