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„Selbstverständlichkeit wäre emotionaler Tod“

02.04.2024 • Malte Süß • Aufrufe: 1812

Stars in der Stadt: Er schreibt über das Böse, hat keine Ängste, mit allen zu sprechen, und entlarvt gern enges Denken. Florian Schroeder im Auepost-Interview über lange Recherchen, warum Narzissmus nötig ist und das richtige Verhalten bei Regen.

02.04.2024
Malte Süß
Aufrufe: 1812
Florian Schroeder | Foto: privat/Eidel

Was hättest du vor einem Jahr nicht für möglich gehalten?

Den 7. Oktober 2023 und die Folgen und – damit einhergehend – dass wir zwei Kriege in und an den Rändern Europas erleben würden und dass diese mit offenem Ende weitergehen. Das war nicht vorherzusehen und ist bis heute schockierend in all seinen Dimensionen und Folgen.

Siehst du etwas als selbstverständlich an?

Der erste Satz von Adornos Ästhetischer Theorie lautet – ein wenig pathetisch, aber im Kern melancholisch wahr: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist.“ Wenn du Kunst durch Leben ersetzt, sind wir bei einem sehr aktuellen Befund. Nichts war oder ist selbstverständlich, und das erfüllt mich weit weniger mit Traurigkeit, als es scheint. Das Nicht-Selbstverständliche ermuntert dazu, die Welt jeden Tag neu zu entdecken und zu erleben. Selbstverständlichkeit wäre Langeweile und emotionaler wie geistiger Tod.

Für was bist du dankbar?

Für das Glück, in einer Weltgegend zu leben, in der es möglich ist, meinen Beruf und alles, was mit ihm zusammenhängt, angstfrei ausleben zu können.

Was hast du letztens zum ersten Mal gemacht?

Die unendlichen Mixes bei Soundcloud gehört. Ein ganzes Universum tut sich auf, das mir bislang fast vollständig verschlossen geblieben war.

Du trittst zum Beispiel in Hamburg, München und Berlin auf. Wie ist es dann für dich, in die Provinz nach Wunstorf zu kommen?

Da mache ich keinen Unterschied. Ob der Saal voll ist oder nicht, ob die Stimmung gut ist oder nicht, hängt nicht vom Ort oder seiner Größe ab. Und das alleine entscheidet.

Trägst du auf der Bühne eine Rüstung?

Nein, im Gegenteil. Ich trage eine Kleidung, die mir alles ermöglicht und mir äußerlich die Freiräume ermöglicht, die ich mir innerlich erarbeitet habe.

Sieht das Publikum euch Kabarettisten so, wie ihr seid?

Es sieht uns hoffentlich so, wie und wer wir sein wollen, wenn wir die Bühne betreten – in allem, was uns ausmacht.

Wie würdest du deinen Beruf beschreiben?

Als grenzüberschreitende Kompromisslosigkeit.

Wie weit darf Kunst gehen?

So weit es das Grundgesetz erlaubt.

Was überrascht Menschen, wenn sie dich besser kennenlernen?

Meine Zurückhaltung, meine Schüchternheit und meine ruhige, teilnehmende Begeisterung.

Wie schaust du auf dich und die Welt?

Mit Demut.

Wer oder was war dieses Jahr deine größte Versuchung oder Enttäuschung?

Die größte Versuchung war, in Julian Reichelts Show zu gehen. Die größte Enttäuschung war, zu sehen, wie dünn es wird, wenn man darin vom Konzept abweicht.

Was hat dich politisiert?

Die Erfahrung, dass Parodie als Klamauk alleine auf Dauer hohl und langweilig ist: So richtig war es die Bundestagswahl 2005, als man Gerhard Schröders Tragik live erleben konnte. Dann das Aufkommen und Scheitern der Piratenpartei und in allerletzter Konsequenz die Geburt der AfD.

Wie lange begleitest du die Personen, die in deinen Büchern vorkommen?

Über möglichst lange Zeit. Mindestens ein paar Monate, höchstens fünf Jahre.

Wie knüpfst du deine Kontakte für deine Bücher – wie z. B. zu Martin Sellner?

Das sind oft langwierige Anbahnungsprozesse, viele Mails, Briefe, Treffen. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern nur Schritt für Schritt.

Haben dich die Ergebnisse von Correctiv überrascht, nachdem du dich mit Sellner getroffen hast?

Überhaupt nicht. Es wurde auf engem Raum in begrenzter Zeit das besprochen, was mir Sellner seit Jahren erzählt hat.

Wer hat dich am meisten beeindruckt bei deiner Recherche bei der Bundeswehr? Pfarrer Reichert?

Wahrscheinlich ja. In diesem Menschen steckt so viel: Eine Distanz zu seiner Kirche und zum Militär, Ironie, Sarkasmus und eine Bereitschaft für das Andere unserer Identität. Das war eine Größe und eine Erweiterung des Vorstellbaren, die ich nicht erwartet hatte.

Wie gehst du in ein Gespräch? Zum Beispiel mit Niko im Gefängnis … erzählst du auch von dir dabei?

In der Rolle des Reporters bin ich sehr zurückhaltend. Wenn ich von mir erzähle, dann anekdotisch. Das Schöne an dieser Rolle ist nicht das Erscheinen, sondern das Verschwinden und Sich-Überlassen im Gegenüber.

In deinem aktuellen Buch sprichst du von deiner Vergangenheit. Bist du immer noch narzisstisch?

Auf jeden Fall. Aber in einem Maß, das dazu dient, meinem Beruf zuträglich zu sein. Den destruktiven Anteil hoffe ich weitestgehend überwunden zu haben.

Wie hast du deine Krisen überwunden?

Durch Zulassen ihrer Kraft und Notwendigkeit und Anerkennen entsprechenden Leidens unter ihnen und mit ihnen. Und durch die Hilfe von außen. Das Wissen, nicht allein zu sein.

Was ist das Beste, was man bei Regen tun kann?

Drinbleiben.

Welche drei Menschen hättest du gerne einmal zum Abendessen eingeladen?

David Letterman, Niklas Luhmann und Christa Wolf.

Deiner Meinung nach gibt es das Böse nicht. Oder Hitler und Putin seien es nicht. Weshalb?

Das Böse ist der Spiegel unserer Ohnmacht. Wollen wir es verstehen, müssen wir uns selbst und unsere Angst vor ihm verstehen.

Was macht dir Angst?

Menschen, die es gut meinen.

Am kommenden Freitag tritt Florian Schroeder im Stadttheater Wunstorf mit seinem Programm „Neustart“ auf.

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