Es ist eine große Runde, die sich im Park des Klinikums versammelt, um einer historischen Stunde beizuwohnen: Mehr als 200 Menschen sind gekommen, um die Verlegung von zwei Stolperschwellen mitzuerleben und ein Zeichen gegen das Vergessen und Verdrängen zu setzen. „Ich bin völlig überrascht“, drückt Andreas Varnholt das aus, was alle denken: „Ich dachte, es kommen vielleicht 30 Leute. Es ist aber dreistellig!“
Die vielen Menschen stehen am 12. Juni 2024 unter hohen Bäumen inmitten des Klinikparks der Psychiatrie Wunstorf, an dem sich eine Gedenkstätte befindet. Ein Rednerpult ist unter einem Pavillon aufgebaut, daneben stehen auf zwei Staffeleien die Porträts zweier Deportierter. Die Staffeleien sind mit Blumen geschmückt und übersät von bunter Farbe – sie stammen aus der Maltherapie der Psychiatrie.
Varnholt, Vorsitzender des Arbeitskreises Erinnerungskultur, ist einer von mehreren Rednern, die von der Leitung des Klinikums und vom Verein „Psychiatrie bewegt“ eingeladen worden sind.
Beide Institutionen stellen sich seit ein paar Jahren konsequent der Verantwortung, die Ärzte aus der Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf, wie die Klinik einmal hieß, auf sich geladen haben: Von Wunstorf aus sind 1940 und 1941 in zwei Transporten 370 jüdische Mitbürger mit psychischen Erkrankungen in den Tod diagnostiziert und geschickt worden. Schüler und Schülerinnen der Otto-Hahn-Schule, der IGS und des Hölty-Gymnasiums tragen Daten ihres Lebens in „Fallvignetten“ vor. Klassenkameraden und -kameradinnen sind im Publikum, die verantwortlichen Lehrer ebenso.
Verantwortlich für die verbrecherischen Taten in der Klinik sind Wunstorfer Ärzte, die die sogenannten Rassengesetze der Nationalsozialisten in die Tat umgesetzt haben. Ihre Namen sind bekannt, so wie die der 370 Opfer. Der frühere Klinikleiter Asmus Finzen hat das öffentlich gemacht mit seinen Büchern „Auf dem Dienstweg“ und „Massenmord ohne Schuldgefühl“. Der habilitierte Arzt tat das gegen den Widerstand des Sozialministeriums.
Die meisten Redner erinnern daran an diesem Morgen. Verantwortlich waren hochrangige Mediziner, und Stadtarchivar Klaus Fesche nennt sie in seiner anspruchsvollen Ansprache. Zur Verantwortung gezogen worden sind sie nicht. Auch das wird thematisiert. Unbehelligt praktizieren die Täter von 1940 nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, machen weiter Karriere und entziehen sich der Justiz. 1966 erklären Gerichte sie aus gesundheitlichen Gründen für nicht verhandlungsfähig und stellen die juristische Verfolgung ihrer Taten ein. Auch das nennt Fesche beim Namen.
Für die heutige Klinikleitung um Iris Tatjana Graef-Calliess ist das ein schweres Erbe. Die scheidende Professorin macht das in ihrer Begrüßung ebenso deutlich wie die Tatsache, dass die Klinik sich längst ihrer Verantwortung stellt. Für Graef-Calliess ist die Verlegung der Stolperschwellen ein wichtiger Schritt, und sie hat zum Ende ihrer Arbeit in Wunstorf mit Kollegen und Ehemaligen viel dafür getan. Der würdige Termin im Park des Klinikums ist eine ihrer letzten Amtshandlungen: Sie hat eine Professur an der Universität Ulm erhalten und wird in wenigen Tagen verabschiedet.
Von einer „erschütternden und verstörenden Geschichte“ spricht Andreas Tänzer. Der frühere Chefarzt der Forensischen Klinik leitet den Verein „Psychiatrie bewegt“, der mit der Klinikleitung und im Verein mit dem Arbeitskreis Erinnerungskultur die Stolperschwellen auf den Weg gebracht hat. Tänzer würdigt die früheren Klinikchefs Andreas Spengler und Asmus Finzen und ihre Rolle bei Aufklärung und Erinnerung. Über Finzen sagt er wörtlich: „Er kam aus der Nachfolgegeneration der Täter nationalsozialistischer Verbrechen und hat der pervertierten Ideologie der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens von psychisch Kranken und Behinderten ab 1975 hier in Wunstorf den Entwurf einer sozialen, rehabilitativen und zutiefst humanistischen Reformpsychiatrie entgegengesetzt.“
Seine Mahnung „Wir als in der Psychiatrie Tätige dürfen uns (…) nicht von der Politik instrumentalisieren lassen und die wissenschaftliche Legitimation für fragwürdige oder sogar so furchtbare Entwicklungen und Entscheidungen liefern“ erntet viel Applaus. Sie passt nahtlos zu dem, was Varnholt später so formuliert: „Wir wollen die Erinnerung wachhalten. Auf dass so etwas nie wieder passiert.“ Er dankt dem Krankenhaus für die Initiative und berichtet erfreut, dass in „Zeiten, die verwirrende politische Strömungen produziert“, die Unterstützung für das Projekt Stolpersteine in der Stadt groß ist. Viele Bürger haben gespendet oder Spenden zugesagt. Varnholt: „Man will bei der Finanzierung dabei sein.“
Was die Redner und das Publikum nicht wissen, ist, dass der „unermüdliche Gunter Demnig“ bereits am Werk ist: Schon vor 9 Uhr hat er fast unbeachtet am Rand des Grundstücks, am Zugang zur Südstraße, die erste Schwelle verlegt. Ein Rechteck im Pflaster ist herausgeschnitten, um Platz zu machen für das Fundament der Stolperschwelle.
Die Menschen gehen nach Fesches Erläuterungen gemeinsam an der Klinikkapelle vorbei den Weg zum Durchgang, der zur Ampel über die B441 Richtung Innenstadt führt. Hier endet und beginnt das Klinkgelände auf westlicher Seite, hier ist die erste Stolperschwelle verlegt. Dicht gedrängt steht man auf dem schmalen Weg und versucht einen Blick auf das Messing zu erhalten – oder ein Foto zu schießen. Wer künftig aus Richtung Fußgängerzone zur Psychiatrie läuft, wird auf sie stoßen.
Demnig geht derweil schon wieder an die Arbeit. Ehe die weiteren Reden zu Ende gehalten sind, die Musik von Ellen Förster und Cassandra Lübeck aus dem 11. Jahrgang des Hölty-Gymnasiums verklungen ist, liegt auch das zweite Exemplar – am Weg zum Bahnhof nahe der Information und des Haupteinganges.
Die Stolperschwellen tragen folgende Inschriften: „Von hier aus - Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf 1930 - 1941 - Im September 1940 werden 158 jüdische Patientinnen und Patienten deportiert - Ermordet im ‚Alten Zuchthaus‘ in Brandenburg/Havel" Und: „Von hier aus - Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf 1930 - 1941 - Von April bis August 1941 werden 212 Patienten und Patientinnen deportiert - In großer Zahl ermordet bei der Aktion T 4“
Minutenlang hört sich der 77-jährige Demnig dort die Würdigungen mehrerer Sprecher an, ehe er – fast scheu und introvertiert – erzählt, dass er wegen der Stolpersteine 270 Tage im Jahr nicht zu Hause sei. Und er betont: „Ich mache keine Werbung. Die Initiative muss aus der Gemeinde kommen!“
Das ist in Wunstorf der Fall: Am 14. November werden in der Innenstadt die ersten Stolpersteine verlegt. Demnig wird erneut anreisen, und der Arbeitskreis Erinnerungskultur setzt ein erstes sichtbares Zeichen
Die damalige Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf wurde 1940 und 1941 als Sammel- und Deportationsort von 25 psychiatrischen Einrichtungen in ganz West- und Norddeutschland genutzt. Von Wunstorf aus wurden Patientinnen und Patienten in das „Alte Zuchthaus“ in Brandenburg/Havel oder andere Einrichtungen gebracht und dort im Rahmen der „T4-Aktion“ ermordet. Direkt aus der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf waren sechs Patienten und eine Patientin von der Deportation betroffen. Die Aktion T 4 ist ein Tarnkürzel des Hitler-Regimes für eine Dienststelle an der Berliner Tiergartenstraße, die unter dem Deckmantel einer Stiftung die massenhafte Tötung psychisch Kranker organisierte.
Ein ausgezeichneter, fundierter Artikel mit wunderbaren Fotos. Merci!
In der Bildunterschrift:
„S t o l p e r s c h w e l l e n v e r l e g u n g s z u b e h ö r“
Ein schönes neues Wort, das die Leistungsfähigkeit der deutschen Sprache beweist. Danke Auepost. Wie passend für diesen Anlass.
And with no Anglizism in it …