Der Marktbetrieb nähert sich dem Ende. Der Info-Stand der SPD am Rathaus ist schon abgebaut. Rebecca Schamber sitzt auf einer der „Olympiabänke“, der grün lackierten Sitzgitterkonstruktionen im Design von 1972. Sie ist neu in der Riege der Frauen und Männer, die jetzt in den Bundestag wollen. Und doch ist sie das, was als alter Hase bezeichnet wird: Acht Jahre lang hat sie für Caren Marks im Wahlkreisbüro gearbeitet, an ihrer Seite, hinter ihr, neben ihr. Sie kennt das Politik-Geschäft aus dem Effeff. Sie kennt das Netzwerk von Marks, hat selbst daran geknüpft. Sie kennt die Anforderungen und Schwierigkeiten. Jetzt will sie die erfolgreiche Bundespolitikerin, seit 2013 Staatssekretärin im Familienministerium und jahrelang Sprecherin der Arbeitsgruppe Familie, Senioren, Frauen und Jugend der SPD-Fraktion, quasi beerben. Marks zieht sich zurück, und Schamber tritt an.
Das ist ein schwerer Gang. Sie muss sich bekanntmachen, der Wahlkreis ist sehr groß, in sechs von acht Kommunen in diesem Bereich liefen oder laufen auch Bürgermeisterwahlen – alle Helfer sind bis zur Belastungsgrenze auf den Beinen. Mit Hendrik Hoppenstedt von der CDU hat Schamber ein Schwergewicht als Mitbewerber um das Direktmandat. Zweimal hintereinander hat er Marks im direkten Stimmenvergleich geschlagen. Marks war auf der Landesliste abgesichert. Schamber ist es nicht. Mit Platz 22 auf der Liste der SPD Niedersachsen wäre ein weiterer „phänomenaler Sprung“ bei der Wahl nötig, um sie in Parlament zu bringen. Oder ein Sieg im Kampf um persönliche Stimmen.
Also setzt sie auf Einsatz. Sie tourt seit Monaten durch den Wahlkreis von Burgdorf im Osten bis Steinhude im Westen und Neustadt im Norden. Sie fährt mit ihrem Wahlkampfbus von Wochenmarkt zu Wochenmarkt, von Termin zu Termin. Meistens allein. Nur hin und wieder ist ihr Ehemann dabei. Sie hat Helfer und Unterstützer – ein Team, einen Apparat wie zum Beispiel der CDU-Kandidat, hat sie nicht. Sie hat zwei Genossen als Wahlkampfleiter ausgewählt, aber wer etwas von ihr will, ruft sie direkt an.
So wird der Kampf um Stimmen zur Herkulesaufgabe. Direkte Ansprache, der Gang von Tür zu Tür ist ihr Konzept. 200 Gespräche mit Bürgern kommen an den Markttagen zusammen, bis zu zwei Stunden jeden Tag für Hausbesuche. Das ist ein Knochenjob. Wer die eher zierliche Frau trifft, erlebt sie stets freundlich, oft zeigt sie ein verschmitztes Lächeln. Die Anstrengungen des Wahlkampfs, den sie mit ihren anderen Verpflichtungen abstimmen muss, sind ihr nicht anzusehen. Sie spürt die Belastung, „aber die aktuellen Zahlen motivieren mich.“ Sie fühle, wie „die Stimmung steigt“ und empfinde Genugtuung nach der langen Durststrecke. Noch sei sie aber zurückhaltend, sagt Schamber. Die Umfragen spiegelten nur Momentaufnahmen. „Ich höre nicht auf, auf der Straße zu sein!“
Sie macht einen Teil des SPD-Hochs an Olaf Scholz fest: „Das ist ein guter Mann. Ich habe ihn gewählt, als es um den Parteivorsitz ging.“ Scholz sei schon früh in der Kampagne bei vielen Wählern gut angekommen, besser als die Partei. Seit ein paar Wochen ändere sich das Bild. Immer öfter werde ihr gesagt, es sei längst Zeit für einen Wandel, längst Zeit für die SPD. Die Reaktionen der Menschen bestätigen sie auch in ihrer Entscheidung, in der SPD aktiv zu werden. „Im Herzen war ich immer in der SPD“, erinnert sie sich im Quartiergespräch. Der Wertekanon der Sozialdemokratie sei ihr eigener, nach wie vor. „Dieses Land braucht die Sozialdemokratie!“ Schröders Agenda 2010? War damals notwendig, sagt sie sofort. Diese müsse aber modifiziert werden. Schamber: „Hätte schon eher angepasst werden müssen.“
„Die Agenda 2010 hätte schon eher angepasst werden müssen“
Rebecca Schamber
Als Kandidatin für Berlin ein Neuling, kann die 45-Jährige doch auf viel politische Erfahrung verweisen. Vor elf Jahren ist sie in die SPD eingetreten, hat schnell Parteiämter übernommen in ihrer damaligen Heimat Wedemark und führt seit dem vergangenen Jahr den dortigen Ortsverein – obwohl sie wieder in ihrer Heimatstadt Neustadt wohnt. In Esperke ist sie geboren, hat die KGS Neustadt besucht und dort 1995 die Abiturprüfung bestanden. In Bremen und Hannover hat sie Jura studiert, musste dann im Café-Restaurant ihrer Mutter in Abbensen einspringen und hat den Betrieb zwei Jahre geführt. „Politik sucht Frauen“, ein Programm des Landes, brachte sie in Kontakt zur örtlichen SPD. Dort lernte sie Marks kennen und wurde eine enge Mitarbeiterin.
Schamber lebt jetzt seit Jahren mit Ehemann und zwei Söhnen in Borstel. Im Nachbarhaus wohnen ihre Schwiegereltern. Sie beschreibt sich als Familienmenschen, kocht gern, liebt Gartenarbeit und Camping. Ihre kommunalpolitischen Erfahrungen hat sie über Jahre in Ortsräten und im Rat der Wedemark gesammelt. Sie war Fraktionsvorsitzende und stellvertretende Bürgermeisterin. In Neustadt setzt sie ihre politische Arbeit jetzt fort. Bei der Kommunalwahl vor ein paar Tagen wurde sie in den Rat der Stadt und in den Ortsrat für das Mühlenfelder Land gewählt.
Zeitliche Konflikte mit der Arbeit in Berlin sieht Schamber nicht. Auch Caren Marks und etliche andere Bundestagsabgeordnete würden Kommunalpolitik in ihrer Heimatstadt mit den Aufgaben im deutschen Parlament gut in Einklang bringen. Schamber auf ihrer Internetseite: „Wir brauchen starke Kommunen. Der Bund ist gefordert, Kommunen zu unterstützen, wo es geht. Denn: Kommunen, die sich um die Menschen kümmern können, stärken den Zusammenhalt. Solidarität und Zusammenhalt wirken neben guter Bildung gegen den aufkommenden Populismus und gegen Demokratiefeinde.“
„Mama, du musst das machen!“
Schambers Söhne
Auf den Weg nach Berlin hat sich Schamber gemacht, bald nachdem Marks ihren Rückzug bekanntgegeben und sie ins Spiel gebracht hatte. „Ich kann ja gut einschätzen, was das an Arbeit bedeutet“, sagt Schamber jetzt. Die Kommunalpolitik vor Ort, die Familie – das alles sei ihr lange durch den Kopf gegangen. Natürlich habe sie Ehemann und Kinder befragt. „Mama, du musst das machen!“, waren sich die Söhne einig. „So eine Chance kommt nicht wieder“, habe sie selbst gedacht. Die parteiinterne Bewerbung war die logische Konsequenz. Zwei weitere Frauen und drei Männer traten mit ihr die Bewerbungstour durch die Ortsvereine an. Schamber setzte sich schließlich „in einem sehr fairen Verfahren“ durch, deutlicher als erwartet.
Was möchte sie anders machen als Caren Marks oder übernehmen? Familienpolitik wie Marks werde nicht ihr Schwerpunkt sein, sagt Schamber. Natürlich wisse sie nicht, ob sie es schaffe, natürlich sei unklar, in welchen Ausschuss sie entsandt werde, aber kommunale Themen seien schon ihre Sache. Marks lasse große Fußabdrücke zurück, habe alles 120-prozentig erledigt. Das sei ein Vorbild. Im Gesundheitssektor müsse sich vieles ändern, meint Schamber. Da gebe es viel zu tun. Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen, die Klima-Krise auf internationaler Ebene zu bewältigen – Aufgaben gibt es nach Schambers Meinung genug. Gern würde sie aber im neuen Bundestagsausschuss für Kommunales und Stadtentwicklung mitwirken.
Reizthema Plakate: In der Wunstorfer SPD sind kritische Stimmen an der Gestaltung der Wahlwerbung mit Porträts in Schwarz-Weiß auf rotem Grund zu hören. „Retro“ soll das sein, sagt eine SPD-Frau hinter vorgehaltener Hand, „wir finden das nur Sch…“ Schamber räumt ein, anfangs habe sie damit gefremdelt. Das monochrome Foto habe sie gestört. Aber die Skepsis sei schnell verflogen. Jetzt sei sie zufrieden, und im Wahlkampf komme das Plakat mit ihrem Konterfei gut an, „gerade bei jungen Leuten“. Außerdem: „Da gibt es ja so einen Schilderwald … Unsere Plakate heben sich tatsächlich ab.“
Bewusst verzichtet, sagt Schamber, habe sie darauf, besonders viele Prominente in den Wahlkreis zu holen. Stefan Weil sei einmal mit ihr unterwegs gewesen, auch Martin Schulz, aber sie setze mehr auf ihre eigene Wirkung. Es gehe um sie persönlich, und deshalb sei sie so viel unterwegs zu Treffen und Besuchen, wie sie nur schaffen könne. „Gartenzaungespräche“ seien ihr Konzept. Die Resonanz gebe ihr Recht.
Viel Glück bei der Wahl. Vielleicht können sie wenigstens etwas mehr „Schwung“ in unsere Politik bringen.
Obwohl, persönlich bin ich der Meinung, das Politiker und Politikerinnen sich schon länger überholt haben. Die Parteien sollten, wie Schuhmacher, Stellmacher, Wagner und andere alte Berufe, einfach verschwinden und durch – wirklich gute – Manager ersetzt werden.
Wenn sie den Betrieb ihrer Mutter mal geführt haben, dann wissen sie was mit der Wahl auf sie zukommt.
In diesem Sinne: Viel Glück.
Ps: Bin kein SPD Wähler, weder die SPD noch irgendeine andere Partei ist seit 1970 von mir gewählt worden.