Die Länderkonferenz einigt sich, die Landesregierung beschließt, und die Region setzt um – und bekommt nun die Prügel ab, indem ihr die Ausgangssperre juristisch um die Ohren geflogen ist. Völlig berechtigt. Nun könnte man einwenden: Jetzt wollen es alle Kommentatoren natürlich wieder besser gewusst haben. Das Oberverwaltungsgericht hätte schließlich auch anders entscheiden können. Dass es das nicht hat, ist jedoch tatsächlich keine allzu große Überraschung. Tagsüber die Menschen gemeinsam in den Büros, in Bussen und Bahnen sitzen, in Geschäften einkaufen und über Märkte schlendern lassen – aber ausgerechnet abends, wenn ohnehin nichts mehr los ist auf den Straßen, sie von diesen fernzuhalten – das ist für jeden Juristen mit nur ein wenig Gespür für Verhältnismäßigkeitsgrundsätze eine Steilvorlage.
ausgerechnet in einem der sensibelsten Grundrechtsbereiche von einer Kann-Bestimmung Gebrauch gemacht
Vor allem bei einem so einschneidenden Grundrechtseingriff wie einer Ausgangssperre muss ganz genau hingesehen werden, ob er zielführend, nötig und dabei auch vertretbar ist – erst dann spricht der Jurist von Verhältnismäßigkeit. Wenn ein Eingriff aber nicht verhältnismäßig ist, dann ist er rechtswidrig – und bei der Ausgangssperre sind gleich zwei der drei Komponenten von Verhältnismäßigkeit fraglich. Wird das Coronavirus weniger verbreitet, wenn nachts weniger Leute unterwegs sind und sich weniger besuchen? Ganz bestimmt. Spielt das im Vergleich zum Tagesgeschehen, wenn bereits der Gang zum Briefkasten im Hochhaus gefährlich ist, eine relevante Rolle? Sehr zweifelhaft. Und dazu auch noch alle Einwohner der Region de facto unter Generalverdacht stellen, abends heimlich Party zu machen? Das Oberverwaltungsgericht hat hier zu Recht die rote Karte gezeigt.
Die Region wollte dabei doch nur alles richtig machen und hat leider alles verkehrt gemacht. Noch schnell eine Verfügung vor Ostern, obwohl verpflichtende Ausgangssperren erst ab einer 150er-Inzidenz greifen sollten, war der erste Fehler. Man hat ausgerechnet in einem der sensibelsten Grundrechtsbereiche – der Bewegungsfreiheit – von einer Kann-Bestimmung Gebrauch gemacht. Dazu die Prognose, dass die Inzidenz über die Feiertage schon weiter steigen werde. Eine Vermutung als Begründung heranzuziehen, das war der zweite Fehler. Und darauf zu vertrauen, dass sich die Einwohner das bieten lassen, war der dritte Fehler. Nicht nur für die Gerichte muss das so ausgesehen haben, als ob man hier auf gut Glück eine Ausgangssperre verfügt hat. Ein bisschen Glück braucht man natürlich, um im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das gibt sogar die Bundeskanzlerin zu, wenn sie sagt, dass sie Brücken baut, ohne das Ufer sehen zu können. Aber die Brücken müssen auch tragfähig sein, sonst nützt das beste Ufer nichts.
wo nach 18 Uhr sowieso nur noch Menschen mit triftigem Grund unterwegs sind
Die Region hat die besten Absichten – die Infektionszahlen runterzubekommen, damit der Raum Hannover seinen Risikostatus verliert und Öffnungen möglich werden. Aber es kommt auch auf das Wie an. Wenn man glaubt, dass die Leute abends zusammen entgegen den bestehenden Regeln feiern, dann muss man dagegen vorgehen. Aber man darf nicht alle anderen, die sich korrekt verhalten, auch in Mitleidenschaft ziehen, weil es den Behörden die Arbeit erleichtert. Wie absurd eine Ausgangssperre wirkte, hat dazu noch das Winterwetter offenbart, bei dem sowieso kaum jemand unterwegs sein wollte. Und in einer Stadt wie Wunstorf, bei der nach 18 Uhr sowieso nur noch Menschen mit triftigem Grund unterwegs sind, muss man sich doppelt fragen, was eine Ausgangssperre ab 22 Uhr überhaupt bewirken soll.
Bei solch gravierenden Maßnahmen darf nicht der Eindruck entstehen, als ob das Prinzip „Wir können es ja mal versuchen“ gelten würde. Viele wünschen sich endlich Lockerungen, aber viele auch endlich wirklich zielführende Maßnahmen, die zu wirklichen Ergebnissen in der Pandemiekontrolle führen. Gerade deswegen wäre es wichtig, dass die Brücken solide gebaut werden. Wer hinterher, wenn die Brücke eingestürzt ist, sagt, dass er mit der Gerichtsentscheidung „gut leben“ könne, wie es Regionspräsident Jagau in seinem Statement zum Gerichtsbeschluss tat, sollte nicht erst Verfügungen bauen, die zu solchen Gerichtsbeschlüssen führen. Der damit angerichtete Schaden in das Vertrauen in die Notwendigkeit der Coronamaßnahmen ist kaum zu kalkulieren. Am Ende kann vor allem das Virus damit gut leben.
Auch auf die Gefahr hin, hier manch einer Leserin oder einem Leser auf die Nerven zu gehen, „muss“ ich jetzt doch noch etwas hinzufügen: In der heutigen Ausgabe der HAZ findet sich als „Frage des Tages“ folgende Frage: „Nach einem Gerichtsentscheid kippt die Region Hannover die Ausgangssperre. Wie finden Sie das?“ 37 % der Befragten und damit mehr als jeder Dritte hat die Antwortoption „Schlecht. Die Zahlen müssen `runter. dafür hätten wir die Ausgangssperre gebraucht.“ gewählt. Weitere 15,6 % haben sich für die Option „Schade – aber wenn es juristisch nicht haltbar ist, muss es wohl sein.“ entschieden.
Daraus folgt: Mehr als die Hälfte der Befragten bedauert die Entscheidung des VG Hannover und des OVG Lüneburg, wäre also ohne Weiteres bereit, die seit mehr als einem halben Jahrhundert einschneidenste Einschränkung der eigenen Grundrechte hinzunehmen und findet es auch völlig in Ordnung, wenn auch alle anderen Regionsbewohner*innen diese massivste aller denkbaren Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit hinnehmen müssten. Und das Ganze schon bei wenn auch nicht Freude verbreitenden, so doch aber vergleichsweise moderaten Inzidenzwerten, nicht etwa bei einem Wert von um die 400, der uns von mehreren Virologen vorösterlich als Schreckensszenario prognostiziert worden ist. Mit anderen Worten: Nicht nur Herrn Jagau, sondern mehr als der Hälfte der Befragten sind elementare Grundrechte mehr oder weniger „schnuppe“ – schön, wenn man sie hat, aber auch kein „Beinbruch“, wenn sie mal nebenbei eingeschränkt werden. Diese Haltung finde ich in höchstem Maße bedenklich. Wenn es einem mehr oder weniger egal ist, was „die da oben“ uns auferlegen, dann verheißt dies für die Zukunft des Rechtstaates nicht wirklich Gutes!
Um eines unmissverständlich klarzustellen: Dieser Kommentar stammt nicht von einem „Querdenker“, sondern von einem „glühenden“ Verfechter des Rechtstaates, der durchaus bereit ist, in dieser aktuellen Lage verhältnismäßige grundrechtsbeschränkende Maßnahmen mitzutragen!
Selbst wenn die Ausgangssperre noch gelten würde, ist meine Frage, wo die Leute ab 22:00 Uhr denn hin wollten.
Alles hat zu. Also total unsinnig, diese Aktion
Ich stimme nahezu allem zu, möchte aber zumindest ergänzend (und verschärfend) noch auf Folgendes hinweisen: Die Verhängung einer Ausgangssperre ist – wie das OVG Lüneburg m.E. völlig zurecht sagt – die „ultima ratio“, also das allerletzte Mittel, das der Staat einsetzen kann, um einen bestimmten für das Gemeinwohlinteresse überragend wichtigen Zweck zu erreichen – und nicht ein Deut weniger! Ich kann mich nicht erinnern, dass eine staatliche Behörde in den vergangenen sechzig Jahren jemals von diesem Instrument Gebrauch gemacht hat! Und jetzt, in einer zwar wenig erfreulichen, aber jedenfalls gegenwärtig durchaus noch kontrollierbaren Lage (anders als beispielsweise in Brasilien mit einer täglichen Todesfallzahl von über 4.000 Menschen!), da prescht Herr Jagau, dieser – zumindest nominelle – Topjurist vor, verhängt mal eben eine Ausgangssperre, und wenn diese ihm dann gerichtlicherseits regelrecht – bildlich gesprochen – „um die Ohren gehauen“ wird, stellt er sich lässig hin und meint, dass er mit dieser Gerichtsentscheidung durchaus leben könne. Wer so agiert, für den hat der Rechtstaatgedanke wohl jeden Wert verloren. Zocken wir doch mal spasseshalber, wie weit man mit gerichtlichem Segen die Grundrechte einschränken darf!