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„Mit mir braucht man nicht zu diskutieren“

21.11.2020 • Redaktion • Aufrufe: 2944

Wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, dann hat man ein Problem – so die landläufige Meinung. Ganz falsch ist das nicht, sagt Marie-Kristin Weitemeier. Denn bis tatsächlich ein Gerichtsvollzieher tätig wird, sind meist diverse Chancen verpasst worden. Die 29-Jährige weiß, wovon sie spricht, denn sie ist diejenige, die im Fall der Fälle bei den Schuldnern klingelt.

21.11.2020
Redaktion
Aufrufe: 2944
Marie-Kristin Weitemeier

Gerichtsvollzieherin Marie-Kristin Weitemeier | Foto: Mirko Baschetti

„Oh!“ – Freunde und Bekannte reagieren meist überrascht, wenn sie erfahren, was Weitemeier beruflich macht. „Das wäre kein Job für mich, immer an den Türen zu klingeln“, kommt dann oft als zweite Reaktion. Gerichtsvollzieher, das sind schließlich diejenigen, die vorbeikommen und die Wertsachen in der Wohnung pfänden, wenn man seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Dabei hat diese Vorstellung nicht viel mit der Realität zu tun. „Das ist ein Klischee“, bestätigt Weitemeier. „Man pfändet wirklich selten.“ Der Außendienst mache zudem nur einen Bruchteil ihrer Arbeit aus. Zu etwa 70 Prozent besteht der Job aus Bürotätigkeit. Und das Büro kann sie sich sogar ganz nach eigener Fasson einrichten. Gerichtsvollzieher arbeiten praktisch wie Selbständige, erklärt sie: Man sei zwar für das Amtsgericht tätig, kümmere sich aber um alles selbst. Die Zeiteinteilung ist ebenso ihre Sache, und oft arbeitet sie auch einfach von zu Hause. Knapp 100 Fälle bearbeitet sie pro Monat, mit ca. 80 Schuldnern hat sie dabei Kontakt. Gepfändet wird eher selten

„Es stirbt auch immer mal ein Gerichtsvollzieher“

Weitemeier ist Quereinsteigerin. Sieben Jahre hatte sie zuvor nach klassischer Bankenlehre bei einer Sparkasse gearbeitet, war aber unzufrieden damit, dass es dort fast nur noch um den Verkauf von Finanzprodukten gegangen sei. „Mir war klar, dass ich diesen Job nicht ewig machen wollte“, sagt sie. Ihr Bruder brachte sie auf die Idee: „Das wäre das Richtige für dich“, hatte er ihr gesagt. Sie hospitierte, bewarb sich, absolvierte die zweijährige Ausbildung und ist nun verbeamtete Gerichtsvollzieherin. Zunächst war sie ein Jahr in Gifhorn tätig, seit Juni ist sie beim Amtsgericht Neustadt. Von dort bekommt sie auch ihre Fälle zugewiesen. Die Gläubiger, die einen Vollstreckungsbescheid bzw. -titel erwirkt haben, beauftragen hier die Vollstreckung durch einen Gerichtsvollzieher.

Wenn sie dann doch einmal vor der Tür eines Schuldners steht, dann kommt Weitemeier meist nicht unangekündigt. Sie könnte es, aber die Chance, jemanden anzutreffen, steigt, wenn sie Termine macht. In der Regel kommen die Schuldner aber zu ihr: Sie lädt ein in ihr Büro, wenn Schuldner eine Vermögensauskunft geben sollen. Denn Schulden werden vor allem über Gehalts- und Kontenpfändungen eingetrieben, erklärt sie. Wer den einstigen „Offenbarungseid“ leistet, wird ins Schuldnerverzeichnis eingetragen. Das ist nicht einfach so einsehbar, aber öffentlich: wer mit berechtigtem Interesse Anfragen stellt, erhält Zugriff auf die Daten. So kann sich ein Eintrag beispielsweise gravierend auf den „Schufa“-Score auswirken. Seine Schulden wird man so aber nicht los. Mit Privatinsolvenzen hätten Gerichtsvollzieher nichts zu tun, räumt Weitemeier mit einem häufigen Missverständnis auf. „Sobald eine Insolvenz eröffnet ist, sind wir raus“, erklärt sie. Ein Insolvenzverwalter wiederum kann sich jedoch eines Gerichtsvollziehers bedienen, um z. B. Zutritt zu einer Wohnung zu erhalten. Nach in der Regel zwei Jahren könnten die Gläubiger erneut auf eine Vollstreckung ihrer Titel hinwirken – und das Procedere ginge wieder von vorne los.

Thermomix ja, Fernseher nein

Das Pfänden ist inzwischen so selten geworden, dass sie als Gerichtsvollzieherin noch nie das Pfandsiegel auf etwas kleben musste. Bislang habe sie nur während ihrer Ausbildung Sachen gepfändet: zuletzt eine teure Armani-Armbanduhr. Vieles dürfe auch gar nicht gepfändet werden. Einen Fernseher zum Beispiel dürfe man nicht pfänden, auch keine Waschmaschine oder für Beruf und Ausbildung notwendige Gegenstände. Gas und Strom dürfen jedoch abgestellt werden, Weitemeier verschafft den Versorgern dann Zutritt. Paragraph 811 der Zivilprozessordnung zählt genau auf, welche Bereiche tabu sind. In solchen Fällen könnte sie jedoch eine sogenannte Austauschpfändung vornehmen, erklärt sie, also etwa den wertvollen Plasmabildschirm beschlagnahmen und stattdessen einen Röhrenfernseher aufstellen. Einen „Thermomix“ könne sie jedoch jederzeit pfänden – der sei nicht lebensnotwendig. Auch die Beschlagnahmung einer Playstation sei möglich, wobei sich hier wiederum die Frage stelle, ob diese genug Geld bei einer Versteigerung bringen würde.

Denn dort landen alle gepfändeten Sachen. Nach einer vierwöchigen Frist, während der die Sachen eingelagert werden und der Schuldner noch einmal Gelegenheit hat, doch noch zu bezahlen, werden die Sachen unter justiz-auktion.de eingestellt. Dort gibt es nichts, was nicht versteigert werden würde, teilweise auch skurrile Dinge. „Das kann man sich gar nicht vorstellen“, sagt Weitemeier. Tatsächlich finden sich dort ein Thermomix, teure Uhren, Autos, Kunst, Möbel, Musikinstrumente und Markenklamotten – darunter auch „neuwertige“ Herrenunterwäsche –, aber auch Wodkaflaschen, ein Blutdruckmessgerät und Kinderballettschule für 1 Euro Startgebot. Sogar ein selbstgebasteltes Mofa ab 50 Euro könnte man hier erwerben. Eine Playstation ist an diesem Tag nicht auf der Plattform zu finden, aber diverse Spiele.

Sachen, die sich nicht versteigern lassen, bekommt der Schuldner wieder zurück. Theoretisch. In der Praxis kommt das kaum vor, sagt Weitemeier, zu versteigernde Sachen finden in der Regel auch einen Interessenten. Das bei den Versteigerungen erzielte Geld bekommt der Gläubiger, und wenn sogar mehr Geld zusammenkommt als zum Begleichen der Schulden nötig ist, bekommt der – nun ehemalige – Schuldner auch noch etwas ausgezahlt.

Arbeitslosigkeit, Krankheit, Schicksalsschläge

Weitemeier erfährt bei ihrer Arbeit von vielen Schicksalen, sieht viele Messie-Wohnungen und soziale Probleme, hält aber emotionale Distanz. „Das darf man nicht an sich heranlassen.“ Sie denke manchmal darüber nach, es tue ihr oft auch leid, aber sie könne es „eben auch nicht mehr ändern“. Sie könne nicht sagen „Sie brauchen nicht zahlen, weil Ihr Partner krank ist“ – das läge nicht in ihrer Macht. Die meisten Schuldner würden auch verstehen, dass nicht sie die „Böse“ ist, die ihnen nun die Sach- und Geldwerte abnimmt, sondern ein Gerichtsvollzieher nur der verlängerte Arm des Gerichts ist, das dafür sorgt, dass die Gläubiger zu ihrem Recht kommen. Sie höre zu, das sei wichtig, auch um die Menschen erst einmal zu beruhigen, sagt sie. Aber am Ende helfe nichts – entweder man bezahle die Schulden oder gebe die Vermögensauskunft ab.

Verweigert sich ein Schuldner, kann der Gläubiger auch die Ausstellung eines Haftbefehls erwirken. Weitemeier geht dann mit diesem zum Schuldner und konfrontiert ihn mit dem drohenden Gefängnisaufenthalt: „Entweder er gibt dann die Vermögensauskunft ab, oder geht bis zu einem halben Jahr ins Gefängnis, bis er doch zahlt oder Auskunft gibt.“ Sie selbst hat es noch nicht erlebt, aber bei Kollegen von solchen Fällen gehört, dass Schuldner wirklich sagen: „Okay, dann bringen Sie mich weg.“

„Bevor der Gerichtsvollzieher kommt, vergehen Monate“

Wohnungen nach Pfändbarem durchsuchen darf Weitemeier übrigens nur mit Einwilligung des Schuldners – außer, das Gericht hat bereits einen Durchsuchungsbeschluss erlassen. Bei Durchsuchungen versucht sie dennoch, nicht zu sehr in die Privatsphäre der Menschen einzudringen, sondern geht mit Fingerspitzengefühl vor. Ihr Auftreten ist trotzdem resolut, „freundlich-bestimmt“, wie sie sagt. Gar nicht mag sie es, wenn Schuldner anfangen, mit ihr diskutieren zu wollen. Oder wenn sie von einem Schuldner nur eine Unterschrift braucht, der aber beginnt, von seinen Krankheiten zu berichten oder stundenlang in seinen Unterlagen wühlt, statt zum Punkt zu kommen. Eine gewisse emotionale Standfestigkeit brauche man für den Beruf, sagt Weitemeier. „Wenn man von einem Schuldner angeschrien wird, dann darf es einem Gerichtsvollzieher nicht passieren, dass er anfängt zu weinen oder selbst unsachlich wird.“ Darauf werde aber bereits bei den Einstellungstests geachtet, bestimmte Fähigkeiten würden vorausgesetzt. Dabei sei sie persönlich eher der sensible Typ, gibt sie zu, aber Privates und Berufliches könne sie gut trennen.

In eine Schuldensituation käme man aus den unterschiedlichsten Gründen. Oft sei es tatsächlich der berühmte Handyvertrag, aber viele ihrer Klienten würden auch einfach die Post nicht mehr öffnen. Dabei „wäre es eigentlich ganz leicht, eine Vollstreckung abzuwenden, wenn man frühzeitig mit den Gläubigern spricht“, sagt die Gerichtsvollzieherin. Bevor sie tätig werde, vergingen viele Monate, man bekäme unzählige Schreiben – und jeder Gläubiger sei froh, wenn er wenigstens etwas Geld bekommen würde. Viele ließen sich daher auch auf Ratenzahlungen ein, die über Jahre liefen. Aber auch unbezahlte Gerichtsgebühren können zum Besuch führen, und auch versäumte Rundfunkbeiträge sind oft ein Grund für Weitemeiers Einsatz. Viele Leute hätten Angst und Hemmungen, mit ihren Gläubigern zu sprechen, wüssten aber oft auch nicht, dass es immer kostspieliger werde, wenn sie gar nicht reagierten. Eine bestimmte Altersstruktur von Schuldnern gebe es nicht. Sie klingele bei 20-Jährigen genauso wie bei 80-Jährigen.

Gefährlicher Job

Obwohl das meiste typische Büroarbeit ist – ungefährlich ist der Job trotzdem nicht. Schuldner können anfangen zu weinen, aber sie können auch aggressiv werden. Es gab schon Fälle, in denen Schuldner Türklinken unter Strom gesetzt oder durch die Tür geschossen haben. Weitemeier hat keine Angst, aber sie geht mit dem nötigen Respekt zu ihren Einsätzen. Denn sie ist auch für Zwangsräumungen zuständig. Bei diesen zieht sie eine Schutzweste an – möglichst verdeckt unter der übrigen Kleidung, um nicht unnötig martialisch zu wirken. Wenn sie klingelt, dann stellt sie sich trotzdem immer erst neben den Türrahmen.

Auch die Wegnahme von Kindern in Sorgerechtsstreitigkeiten gehört zu ihrem Berufsbild und zählt zu den schwierigen Einsätzen, bei denen die Betroffenen unvorhersehbar reagieren können. In solchen Fällen rückt sie – neben Begleitung von Jugendamt und Schlüsseldienst – grundsätzlich gemeinsam mit der Polizei an, die ihr Amtshilfe leistet. Die Polizei informiert sie auch unabhängig davon stets im Vorfeld, wenn sie den Eindruck hat, dass es Schwierigkeiten bei einem Schuldnerbesuch geben könnte. Weitemeier hat ein Gespür dafür, wenn eine brenzlige Stimmung herrscht. Wenn es bei Schuldnern einmal lauter wird, heißt es für sie daher: „Wieder rausgehen, Polizei einschalten.“ Sie deeskaliert, wo es möglich ist, aber sie bringt sich auch nicht unnötig in Gefahr.

Die Chance, dass Weitemeier an den Türen von Wunstorfer Schuldnern klingelt, ist allerdings vergleichsweise gering. Sie ist für Teile von Neustadt und Garbsen zuständig, in Wunstorf wird sie zumindest in nächster Zeit allenfalls im Rahmen von Urlaubs- oder Krankheitsvertretungen unterwegs sein.


Interview: Mirko Baschetti/Daniel Schneider; Text: Daniel Schneider
Dieser Bericht erschien zuerst in Auepost #10 (Juli/August 2020)

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