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Riedels Ratschläge: Über Wonher, Lautverschiebungen und die Rolle von Kaufleuten

03.07.2022 • Achim Süß • Aufrufe: 941

Wie wurde Wunstorf zu der Stadt, die sie heute ist? Historiker Bernd Riedel stellt eine neue These in den Mittelpunkt: Die Kaufleute haben die Stadt groß werden lassen.

03.07.2022
Achim Süß
Aufrufe: 941
Bernd Riedel in der Stadtkirche | Foto: Achim Süß

Wunstorf (as). Vergleichbares hat man in Wunstorf wohl noch nicht gehört. Bernd Riedel entfaltet eine Stunde lang eine historische Landkarte von der Stadt. Voller Details. Die sind mehr oder weniger bekannt. Mehr bei Kundigen, weniger bei Otto Normalbürger. Er spricht auch über Lautverschiebungen. Das allein ist ein Ausdruck, der im Alltag weniger Menschen eine Rolle spielt. Es geht dabei nicht um verkorkste Ausdrucksweisen oder Sprachfehler. Riedel erklärt plausibel, wie sich die Sprache der Germanen zunehmend veränderte gegenüber der Sprechweise in anderen Ländern. Er beleuchtet, warum Plattdeutsch und Englisch ähnlich sind. Plötzlich ist er mitten in demokratischen Mechanismen. Den alten aus der Zeit der Stadtgründung und -werdung.

Nicht Äbtissinnen und Vögte

Riedel spricht in der Stadtkirche auf Einladung der Stiftung Rotes Lehmhaus. Als Beitrag zur 1150-Jahr-Feier wirft Riedel, der Journalist, Buchautor und Historiker, eine sperrige Frage auf. So formuliert es Stiftungs-Leiter Rolf Herrmann bei der Begrüßung. „Die Mitwirkung des Volkes bei der Feststellung seines eigenen Willens“ lautet der Titel des Vortrags. Er holt weit aus, fragt nach den Gründen, warum sich der allgemein als Gründer betrachtete „Wonher“ auf der Anhöhe zwischen den Auearmen niederließ, warum daraus eine Siedlung wurde, ein Stift, eine Stadt. Riedel liefert seine Interpretation historischer Quellen und stellt Zusammenhänge her. Ungewöhnlich: Riedel sieht nicht Äbtissinnen oder Vögte in zentraler Rolle, nicht Grafen oder Burgmannen. Es sind die Kaufleute, meint Riedel.


Riedels Vortrag in Auszügen:

Die zentrale Figur bei allen diesen Vorgängen ist der Kaufmann, und mit dieser Bezeichnung sind auch gemeint der kleine lokale Händler und der Handwerker, der Dienstleister, der Schuhputzer, die sich alle im Laufe des Hochmittelalters mit einem gewissen Stolz Bürger der Stadt Wunstorf genannt haben. Diesem Kaufmann, diesem Bürger, diesem Menschen verdanken wir eine ganze Menge. Nach dem, was er/sie und seine Familien begannen, richten wir noch heute unser Leben aus. Einer/eine hat's vorgemacht; andere ahmten es nach. Zum Glück für uns.

Die kommunale Selbstverwaltung – sie ist Basis und Rückgrat des modernen demokratisch verfassten Staates. Die Idee des Marktes und der Geldwirtschaft als Massenphänomen. Grundrechte, Menschenrechte, von der Freizügigkeit bis zur körperlichen Unverletzlichkeit; er hat den Grund dazu gelegt und sie erstmals eingefordert. Die Idee des Eigentums: Haus, Grundstück, auf der unsere Idee von Freiheit ja auch basiert – er hat's erfunden. Eine (an sich wertlose) Parzelle und ein Haus als Besitz und Eigentum, nicht um dem Herrn Erträge zu erwirtschaften, sondern um die nötige Freiheit zu erlangen, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, als Händler, Handwerker, Dienstleister. Diesem Modell jagen wir noch heute alle nach. Die Idee des Erwerbs von Wissen und Bildung, um seine Umwelt aktiv mitzugestalten. Die Idee der Öffentlichkeit, der Diskussion um den besten Weg, der Mitgestaltung und Mitwirkung – er hat sie neu entdeckt (in der griechischen Antike gab es das schon) und neu zur Reife gebracht.

Wir können so viel sagen: Die Stadtbevölkerung war ein Gemisch aus nicht Gleichen, die nach und nach eine gemeinsame Idee von Gleichheit entwickelten und förderten – und das gemeinsame Ziel für jeden Einzelnen war: das Bürgerrecht. Sie alle hatten eine gemeinsame Idee von Aufstieg durch Arbeit. Ihnen allen war, bei aller Unterschiedlichkeit, eines gemeinsam: ihre Risikobereitschaft. Und der Wille, sich aus Abhängigkeiten zu befreien und ihr Leben in der Weise selbst in die Hand zu nehmen, dass es nicht mehr vorgezeichnet war wie noch das ihrer Eltern und Großeltern. Ein selbstbestimmtes Leben – für uns eine Selbstverständlichkeit und im Grundgesetz sogar garantiert. Diese Menschen hatten keinen institutionellen Schutz und haben diese Idee trotzdem erstmals verwirklicht.

Woher wussten die frühen Wunstorfer, Ritter und Weber, Bürger und Handwerker, Knappen und Ratsherren, was sie tun mussten? Woher kam das Wissen? Wieso nannten die Wunstorfer so wie die Bolognesen – die Bürger Bolognas, das noch immer rund 1200 km entfernt vom Wunstorf existiert – ihre Ratsherren consules? Wer legte das fest? Wurde es aus der Luft gegriffen? Gab's Handbücher dafür? Wohl kaum. Es beginnt im 10. und 11. Jh. in Oberitalien, in Städten wie Bologna, Mailand, Cremona, Brescia und vielen anderen. Es folgt Nordfrankreich, Südfrankreich etwas später. Noch zuvor wird die Bevölkerung der rheinischen Bischofsstädte infiziert: Worms, Köln, Mainz, Trier. Von dort bricht es sich Bahn Richtung Südwesten und Nordosten, jetzt wird der Prozess von aufstrebenden Territorialherren aufgenommen und führt zu offiziellen Städtegründungen; auch im Hanseraum, zu dem wir Wunstorf grob zählen dürfen. Ungefähr 150 bis 200 Jahre braucht es von seinem Ursprung bis in die niedersächsische Tiefebene.

Diese Ideen blühten, dieses neue Wissen kam auf Handelswegen, in den Köpfen von Kaufleuten, die nicht nur ihre Waren anboten, sondern auch Informationen mitbrachten. Und wie immer Sie auf die Geschichte Wunstorfs blicken, ob mit Freude oder einem gewissen Gruseln – eins ist sicher: die Bewohner, Bürger und Kaufleute des frühen Wunstorfs und ihre Familien haben Wesentliches geleistet, damit diese Stadt und der Wirtschaftsraum, in dem wir uns noch heute bewegen, überhaupt entstehen und sich halten konnte. Hier ist er also, der einfache Gedanke, in seiner ganzen komplexen Schönheit: Es kommt auf jede einzelne Stimme an – wenn etwas geschehen soll, wenn etwas anders werden soll. Oder eben nicht. Denn es liegt viel Verantwortung darin, diese Stimme so zu handhaben, so zu nutzen, dass sie nützlich ist, für einen selbst und für andere.

Die Mitwirkung des Volkes bei der Feststellung seines eigenen Willens ist keine Massenveranstaltung, wie das Wort vom Volk suggerieren könnte. Es ist eine Individualveranstaltung. Denn ehe das Volk seinen eigenen Willen kennt, muss sich jeder Einzelne mit seinem Willen auseinandersetzen, ihn kennen, artikulieren und, falls möglich, allein umsetzen. Das zeigt uns die Wunstorfer Geschichte.

Und noch ein Rat: Erwarten Sie nicht zu viel. Sie sind nicht alleiniger Bestimmer des Gemeinwesens. Sie sind ein Mit-Bestimmer. Das ist nicht wenig.
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Kommentare


  • Lydia Bertani sagt:

    Bernd Riedels erarbeitete Erkenntnisse decken sich weitgehend mit meiner Sicht der Geschichte. Es ist gradezu logisch, dass Kaufleute und auch Landwirte (in Wunstorf waren es ja oft Hybride, was man an der Bausubstanz gut erkennen kann) für den Erfolg einer Gesellschaft gearbeitet haben, diesen fleissig erzeugten . Die Kirche wie auch der Adel haben es lediglich verstanden, sich als „Obrigkeit“ parasitär an den Ergebnissen Dritten zu bereichern und für sich arbeiten zu lassen. Das wird/ wurde notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt. Im Grunde ist es heute nicht anders, nennt sich nur „unsere Demokratie“ (man beachte das einschränkende unsere) und gaukelt den Menschen vor, sie hätten Mitgestaltungsmöglichkeiten. Leider ist vom zugrunde liegenden, für eine wirkliche Demokratie notwendigen „freien Willen“ nicht viel übrig geblieben, denn diese Kaste bedient sich der ihr gehörenden medialen Macht, auch Propaganda genannt, die Mehrheit derart einzuhegen, sprich zu manipulieren, dass der daraus resultierende Pseudo-Wille genau nach deren Geschmack ist. Die kleine Minderheit, die das durchschaut, ist entweder irrelevant und Opfer, da von der manipulierten Masse überrannt, oder verdingt sich als Parasit dieser Situation.
    Daher: Eigentlich alles beim Alten, nur im neuen Gewand. Steht auch alles in der Bibel, die eben keine alte Geschichte ist, sondern eine Allegorie der immerwährende Problematik, die tagtäglich stattfindet. Ans Kreuz genagelt werden die, die nicht schweigen und dafür nicht das Geld nehmen.
    Im Grunde ein römisches System, das als Grundlage stets das Geld hat.

    • Lydia Bertani sagt:

      Ergänzend:
      Man mag von Franz Josef Strauß halten was man will, aber was er hier sagte, hat Hand & Fuß:
      Zitat: „Wer die Menschen verwirrt, wer Sie ohne Grund in Unsicherheit, Aufregung und Furcht versetzt, betreibt das Werk des Teufels.“

      • Dieter Bückmann sagt:

        Ja, es gab in der damaligen Zeit wirklich einige einige Pölitiker, die ihr Herz auf der Zunge trugen. Einige herausragende waren FJS und Wehner.
        Eine Debatte der beiden im BT im TV zu erleben, war weitaus besser als die heutigen Programme mit ihren „Shows“ und maßlos vielen Wiederholungen.

        Das waren noch Zeiten, da wurde – man möge mir verzeihen – Himmel noch mit P geschrieben. ( . – ) ) )

        Die nachfolgenden, Schmidt und Kohl haben sich`s auch manchmal richtig gegeben. Was solls, alles vorbei, kommt nicht wieder. Leider.

        • Lydia Bertani sagt:

          Man darf sich daher berechtigt fragen, was die aktuellen Politiker heute auf der Zunge tragen; mit Herz hat das mMn am wenigsten zu tun. Die damaligen Politiker haben aber auch nur Volkstheater abgeliefert, ganz so, wie es bestellt war.

  • centrodelmargine sagt:

    Wie „beruhigen“, dass jemand mal durchschaut: Unsere Demokratie ist ein vom Teufel bestelltes Volkstheater. Demnächst mehr davon in diesem Theater …

    • Dieter Bückmann sagt:

      Diese, unsere Demokratie? Ein Volkstheater? Wo denn?

      Wir haben die besten und klügsten Politiker der Welt, was soll da schiefgehen.

    • Lydia Bertani sagt:

      Beunruhigend daran ist aber leider, dass man die erdrückende Mehrheit quasi mühelos über einen Lutscher und eine Bratwurst gewinnen kann, so dass die verschwindend geringe Menge derer, die etwas mehr zu durchblicken glaubt, unbedeutend ist und bleibt.
      Diese Minderheit ist konstruktiv bedingtes Opfer der „Diktatur der Dummheit“, wie böse Zungen das nennen, was „unsere Demokratie“ genannt wird. Ich würde das ja selbst nie so sagen…..Die Sage vom Rattenfänger hat die Mehrheit vom Kern her auch nie begriffen….wird sie auch nie….daher funktioniert das Ganze zuverlässig wie ein Hamsterrad der Generationen…“Halt Du sie dumm, ich halt sie arm“, „divide et impera“….
      Alle die, die an den besseren Fressplätzen innerhalb dieses Systems sitzen, werden einen Teufel tun, das zu ändern oder angreifen zu lassen. Dafür gibt es Abwehrmechanismen, die Schwurbler-, Alu-Hut-Träger- oder Verschwörungstheoretiker-Vorwurf etc. heissen. Notfalls unterstellt man dem Kritiker ganz einfach Thesen, die er selbst nie ansatzweise gesagt hat….

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