Was Deutschland gerade erlebt – eine vor kurzem noch nicht für möglich gehaltene hohe Inflation, Energiekrise und wirtschaftlicher Einbruch – fand vor genau 100 Jahren schon einmal statt. Allerdings in weit größeren Dimensionen. Die historische Wirtschafts- und Währungskrise Anfang der 1920er Jahre brachte das Land in eine existenzielle Krise. Die Preise explodierten so sehr, dass das alltägliche Leben unbezahlbar wurde. Doch in dieser Phase gab es auch Profiteure – was den Unmut in der Bevölkerung weiter anheizte. Radikale Parteien erhielten Zulauf, die Menschen wurden aufständisch und griffen zur Selbsthilfe.
Auch im damaligen Wunstorf bildeten sich kommunistische Komitees, die die kaum zu fassende Preisspirale zu stoppen versuchten – indem sie z. B. selbst die Höchstpreise für in der Stadt gehandelte Waren festlegten. Die KPD-Anhänger versuchten letztlich, die damalige Stadtspitze – den Magistrat – zur Zustimmung zu ihren Plänen zu bewegen … doch der lehnte ab. Über den Aufstand, bei dem die Stadtführung dann durch aufgebrachte Wunstorfer zur Unterschrift gezwungen wurde, berichtete der Hannoversche Kurier am 28. November 1922, zwei Tage nach dem Vorfall:
Wie in vielen Teilen des Reiches, so hatten sich auch in Wunstorf Kontrollausschüsse gebildet, die einen ungesetzlichen Einfluss auf die Gestaltung der Preise erstrebten. Vom Magistrat der Stadt Wunstorf war die Anerkennung dieses kommunistischen Kontrollausschusses in einer Sitzung am Sonnabend abgelehnt worden, in deren Verlauf Abgesandte einer großen vor dem Rathause versammelten kommunistischen Ansammlung erneut die Forderung vorbrachten, besagte Kontrollausschüsse anzuerkennen. Wiederum lehnte der Magistrat ab, um dem Druck der Straße nicht Raum zu geben, erklärte sich jedoch bereit, eine Preisüberwachungsstelle zusammengesetzt aus den verschiedensten wirtschaftlichen Persönlichkeiten zu gründen, die ausgesprochene Wucher verhindern sollte. Dieses genügte den kommunistischen Demonstranten nicht. Sie drangen in Mengen in das Rathaus ein und zwangen schließlich den Magistrat, der von der Außenwelt völlig abgeschnitten war, unter Drohungen zu einer Unterschrift, die die kommunistischen Kontrollausschüsse anerkannte.
Doch die Staatsmacht reagierte entsprechend und versuchte die Ordnung wiederherzustellen. Am 27. November 1922, der damals auf einen Montag fiel, eskalierte die Lage, als die erpressten Zugeständnisse wieder rückgängig gemacht wurden. Denn ausgerechnet an diesem Tag fand auch der Ferkelmarkt in der Wunstorfer Viehhalle statt – und wurde zum Desaster. Die Wut schlug in Gewalt um. Die wütenden Wunstorfer gingen auf die Händler los und wurden teils zu Plünderern. Nach den damaligen Berichten müssen sich dabei auch lynchartige Szenen abgespielt haben. Händler wurden misshandelt und krankenhausreif geschlagen. Die Regierung schickte Polizeieinheiten, um die Ausschreitungen unter Kontrolle zu bekommen. Die Leine-Zeitung schrieb dazu zwei Tage später:
Der Sonntag verlief ruhig. Als am Montagvormittag jedoch vonseiten des Regierungspräsidenten aus die erpresste Unterschrift für ungültig erklärt wurde, kam es zu großen Ausschreitungen auf dem Viehmarkte, in deren Verlauf etwa 150 Schweine gestohlen und eine Anzahl zur Hälfte des üblichen Preises verkauft wurde. Zurzeit weilt in Wunstorf der Oberstaatsanwalt von Hannover, um den Vorfall restlos aufzuklären und die Bestrafung der Schuldigen herbeizuführen; in Wunstorf sind Landjäger und einige Schupobeamte eingetroffen.
Es blieb nicht bei diesem einen Vorfall. In den folgenden Tagen eskalierte die Lage weiter …
Wir schreiben das Jahr 1922. Wunstorf ist eine kleine, landwirtschaftlich geprägte Ortschaft in der preußischen Provinz Hannover. Das Ende des Ersten Weltkriegs liegt noch nicht lange zurück, die Menschen erleben viele Umbrüche in der ersten deutschen Demokratie. Man ist auf dem Weg in die „Goldenen Zwanziger“. Das Deutschlandlied wird erstmals zur Nationalhymne erklärt. In Berlin wird der Stummfilm Nosferatu uraufgeführt. In Ägypten wird das Grab von Pharao Tutanchamun entdeckt. Die Sowjetunion wird gegründet.
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