Kalt ist es geworden in Wunstorf, die Tiefsttemperaturen liegen um den Gefrierpunkt, als wir Anfang November zum „Tagestreff“ kommen. Für Menschen, die auf der Straße leben, beginnt nun eine der härtesten Zeiten des Jahres. Hier erhalten sie eine Möglichkeit zum Aufwärmen und Ausruhen. In einem großen Aufenthaltsraum gibt es einen Fernseher und Internetzugang. Dazu Toiletten, eine große Dusche und einen Wäscheraum mit Waschmaschinen. In der Küche lassen sich schnell einmal Kleinigkeiten zubereiten. Schlafen oder gar übernachten kann man im Tagestreff jedoch nicht. Der Kaffee kostet 50 Cent, Wäschewaschen einen Euro – Symbolpreise als Beteiligung für Stromkosten etc.
Im Flur grüßt uns einer der Gäste. Unwillkürlich fragen wir uns, ob er uns für Obdachlose hält, die gerade zum ersten Mal in den Tagestreff kommen. Man will sich abgrenzen, die Stigmatisierung fängt immer im eigenen Kopf an, merken wir. Neben den Büros der Mitarbeiter gibt es hier eine Küche und ein großes Badezimmer mit Dusche. Man kann seine Wäsche waschen, man kann sich Mahlzeiten zubereiten. Im großen Aufenthaltsbereich sitzt man an vielen Tischen, es wirkt wie ein großes Wohnzimmer. Hier wird gelesen oder der Internetzugang genutzt. Große Fenster bieten einen Blick auf die Terrasse, die im Sommer gern genutzt wird, und den Garten des angrenzenden Kindergartens. Auch hier ist man trotz der Gemeinschaft des Treffs auf Rückzugsorte bedacht. Dem alten Standort in der Georgstraße, der vorübergehend genutzt werden konnte, trauert man etwas hinterher. Das sei ein richtiger Altbau gewesen, mit vielen Rückzugsmöglichkeiten. Dagegen käme manchen der jetzige Standort wie eine Zahnarztpraxis vor.
Etwa 30 Wohnungs- und Obdachlose zählen zu den Stammbesuchern, die täglich oder immer mal wieder kommen. Manche haben ihren Aktionsradius rund um Wunstorf oder in der Region, andere sind in ganz Deutschland unterwegs und reisen nur durch. In den Wintermonaten ist der Tagestreff dank Ehrenamtlicher auch an den Wochenenden geöffnet.
Auch Bert W., den wir interviewen durften, kommt regelmäßig zum Tagestreff, wenn er in Wunstorf auf der Durchreise ist. Nicht alle Tagestreffbesucher sind obdachlos, klärt Sabrina Koster auf. Sie ist eine der beiden hauptamtlichen Sozialpädagogen. Von den etwa 20 Besuchern pro Tag sind nur zwei bis drei gänzlich ohne Wohnung. Die tatsächlich Obdachlosen kämen meist gar nicht bis nach Wunstorf, sondern blieben in Hannover hängen. Wunstorf sei zu abgelegen. Wenn sie kämen, suchten sie vor allem Ruhe. Denn die permanente Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht, nicht zu wissen, wo man als Nächstes lande, sei Stress pur. Es ginge daher meist sehr ruhig zu im Tagestreff, erzählt Koster, viele suchten Stille. So ist es auch an diesem Tag. Nur Männer sind da. Neben Koster ist die einzige Frau die Haushälterin. Paare kämen sehr selten, Kinder nie. Auch junge Erwachsene sind eher selten dabei. 80 bis 85 Prozent sind Männer. Das hinge damit zusammen, dass Obdachlosigkeit von Frauen noch viel schambehafteter sei, außerdem hätten Frauen oft Netzwerke, die einen tatsächlichen Absturz in die Obdachlosigkeit verhinderten.
Es ist nicht so wirklich viel an bezahlbarem Wohnraum da
Sabrina Koster
Auch wenn der Tagestreff keine Wohnungsvermittlung sei, helfe man, wo man könne, und versuche Türen zu öffnen. Der Wunstorfer Wohnungsmarkt sei für diejenigen, die von Arbeitslosengeld II lebten, praktisch tot, sagt Sabrina Koster. Ihr Eindruck sei, dass es immer weniger werde mit dem bezahlbaren Wohnraum. Die Haltung in der Stadt sei lange gewesen, dass man keine Sozialwohnungen brauche, weil es einen Durchsickerungseffekt gebe: Wenn neue teure Wohnungen von Mietern belegt würden, würden ältere, billigere frei. In der Realität ist beim Tagestreff davon nicht viel zu merken, im Gegenteil. Gerade für Menschen mit Vermittlungshemmnissen würden keine Wohnungen frei. Bei der Stadt könne man daher zwar einen sogenannten B-Schein beantragen, der einen als Berechtigten für eine Sozialwohnung ausweise, doch der nütze am Ende nichts, wenn eben keine Sozialwohnungen frei seien. B-Schein-Wohnungen gebe es so gut wie gar nicht in Wunstorf. Koster rät trotzdem allen, einen B-Schein zu beantragen, da die Verwaltung auch nur so von dem Problem erfahre und sich am Ende nicht auf den Standpunkt stellen könne, dass gar kein Bedarf bestehe.
Aber nicht jeder der Obdachlosen will auch eine Wohnung haben. Manche wären schon mit einer Gartenlaube zufrieden wie Bert. Man könne den Menschen auch nichts aufzwingen, man müsse immer im Hinterkopf behalten, ob diejenigen das auch möchten, was man ihnen anbietet, sagt Koster. Andererseits gehöre dazu, auch immer wieder zu zeigen, dass man Möglichkeiten habe und mehr erreichen könne, auch wenn man schon auf der Straße angekommen sei. Dass viele nicht in der Lage seien, in den angebotenen Strukturen zurechtzukommen, das frustriert auch die Sozialpädagogin.
Den „Berber“, der durch die Lande ziehe und der dem klischeehaften Bild des Obdachlosen entspricht, gebe es eigentlich kaum noch, das Reisen habe abgenommen, sagt Sabrina Koster vom Tagestreff. Der Großteil der Obdachlosen habe sich nicht für ein Leben auf der Straße entschieden, sondern lebe dort mangels Alternativen, aber ortsgebunden. Oft spielten psychische Erkrankungen eine Rolle, viele der Tagestreffbesucher hingen im Graubereich zwischen Psychiatrie und dem Leben „da draußen“ fest. Darauf sind die Sozialarbeiter im Tagestreff eigentlich nicht eingestellt, geholfen werden kann in beschränktem Maße trotzdem, denn eine Krankenschwester kommt regelmäßig ins Haus.
Eine besonders starke Nachfrage nach dem Tagestreff in bestimmten Monaten gibt es nicht. Viele gingen davon aus, dass es im Winter brechend voll sein müsse im Tagestreff, erzählt Koster. Doch das sei nicht der Fall. Der Tagestreff werde das ganze Jahr über gleichmäßig stark genutzt. Vielen sei auch nicht bewusst, dass der Sommer genauso hart für Obdachlose sein kann wie der Winter. Obdachlosigkeit bei 35 Grad im Schatten sei kein Vergnügen. Bei Minusgraden wird es im Winter auch sehr gefährlich, und wer dann z. B. Alkohol getrunken hat, kann die tatsächlichen Temperaturen nicht mehr richtig einschätzen. Alkohol wird in solchen Situationen zur unmittelbaren Gefahr. Den Tag überhaupt zu gestalten sei schon schwierig genug, die Witterung komme dann noch dazu. Man lebt in den Tag hinein und macht sich Gedanken, wo man eine sichere Platte, also einen geschützten Unterschlupf für die Nacht findet. „Platte machen“, das ist der Jargon für das Leben auf der Straße. Tagesstruktur ist wichtig, und die kann der Tagestreff partiell bieten, er wird zum Teil der Lebenswelt der Besucher.
Ich sehe am nächsten Tag, dass sie keine gute Nacht hatten, aber klargekommen sind
Sabrina Koster
Die kommen am Vormittag, duschen erst einmal, frühstücken, decken sich mit Lebensmitteln ein. Um 14 Uhr ziehen sie wieder los und bereiten sich praktisch schon auf die kommende Nacht vor. Zweckgemeinschaften unter Obdachlosen gibt es kaum, jeder kämpft für sich allein. Dieser dauernde Kampf zehrt drastisch an der Substanz. Obdachlose haben in der Statistik eine um 10 bis 15 Jahre verkürzte Lebenserwartung. Viele sind depressiv, haben mangelndes Selbstwertgefühl. Vor allem die Weihnachtszeit wird nicht schön, weil dann besonders sichtbar wird, was fehlt.
Manfred Ratzmann ist der zweite der „Herbergseltern“ im Tagestreff. Auch er trägt Vollbart, der nicht ganz die Ausmaße von Berts Haarpracht erreicht. Auch er bevorzugt „Besucher“, ein „Kunde“ rutsche ihm nur selten einmal heraus, wenn er zuvor gerade mit dem Jobcenter zu tun hatte, sagt er. Obdachlose, die ALG II beziehen, bekommen ihr Geld nicht monatlich überwiesen, sondern müssen es sich täglich auszahlen lassen – knapp 15 Euro. Schaffen sie das einmal nicht, haben sie noch weniger Geld im Monat zur Verfügung als ein ALG-II-Empfänger mit festem Wohnsitz. Damit sie nicht extra zum Jobcenter müssen, wird ihnen ihr Geld aufgrund einer Vereinbarung mit der Behörde direkt im Tagestreff ausgezahlt. Woanders gäbe es „abschreckende Hilfe“, so Koster, in Wunstorf liefe das besser. Obdachlose würden nicht gleich am ersten Tag zum Bewerbungsschreiben verpflichtet und damit vergrault. In Wunstorf kommt stattdessen sogar ein Mitarbeiter extra zu den Menschen „ins Wohnzimmer“ des Tagestreffs, statt sie aufs Amt zu zitieren.
Ein übergeordnetes Ziel gibt es beim Tagestreff nicht. Ein erfolgreicher Tag sei, wenn er das Gefühl habe, dass die Besucher mit einem besseren Gefühl gegangen sind, als sie hereingekommen waren, sagt Ratzmann. Man versuche, das Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. Obdachlose hätten Sehnsucht nach Sicherheit und Familie, suchten Geborgenheit wie jeder andere, sagt Ratzmann. Für viele sei man daher auch ein wenig Familienersatz. Aber manche hätten auch große Träume und Ziele. Einer der langjährigen Tagestreffbesucher hatte den Traum, einmal im Leben nach Island zu fliegen. Mit Unterstützung des Tagestreffs und viel Vorbereitung erfüllte sich dieser Wunsch tatsächlich.
Es erfordert Selbstvertrauen, einen Obdachlosen zu fragen, ob er etwas braucht. Viele sind unsicher, wie sie Obdachlosen gegenübertreten sollten, ob sie Geld oder Unterstützung anbieten sollen. Man könne aber nichts „verkehrt“ machen, sagt Ratzmann, man könne auch Geld geben. Die meisten würden es schätzen, wenn sie angesprochen werden – denn wenn sie sich etwa in der Innenstadt zeigten, dann wollten sie Aufmerksamkeit erreichen. Privat gibt Ratzmann nichts, er wüsste auch gar nicht, wo er anfangen solle. Auch das sei moralisch in Ordnung.
Armut in Wunstorf
Teil 1: Die Tafel Wunstorf
Teil 2: Zuhause im Wunstorfer Wald
Teil 3: Im Wunstorfer Obdachlosentreff
Dieser Text erschien als Teil der Titelgeschichte zuerst in Auepost 12/2019
Pardon, was wird in Wunstorf und natürlich den angrenzenden Gemeinden überhaupt an bezahlbarem Wohnraum angeboten? Wenn Frau Köster hier sagt, „es gäbe nicht wirklich bezahlbaren Wohnraum“ sollte sie doch mal die Wohnungsanzeigen studieren, egal, ob bei EBAY oder Immobilienscout. Aber keiner sagt was, das Schweigen und Wegschauen derer, die in ihrem gemütlichen Heim sitzend den Garten betrachten, ist einfach erbärmlich.