Kaum regnet es einen Tag lang stärker, steht schon wieder das Wasser auf den Wunstorfer Wiesen, der Pegel der Flüsse steigt. Es erinnert an das zurückliegende Hochwasser, als Wunstorf zum Jahreswechsel auf eine Katastrophe zuzusteuern schien.
Die Feuerwehren sind die Ersten, die kurz vor Weihnachten ausrücken, nur wenig später wird bereits das THW hinzugezogen, und auch für die Johanniter heißt es: Hochwasseralarm. Als Ende Dezember die Wassermassen für Wunstorf bedrohlich werden und erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Hochwassersituation großen Ausmaßes in der Stadt eintritt, ist es letztlich das Zusammenspiel vieler Hände, das Schlimmeres verhindert.
Herausstechend ist die Rettungsaktion zur Sicherung der Kläranlage Luthe. Die Anlage, die Wunstorf und auch Teile des Garbsener Stadtgebiets entwässert, droht vom Leinehochwasser überschwemmt zu werden – was die Zerstörung des komplexen Wasserbehandlungssystems bedeutet hätte. Die stetig arbeitenden Pumpen wären ausgefallen, das Abwasser in der Stadt wäre daraufhin nicht mehr zu kontrollieren gewesen – mit unabsehbaren Folgen für den Alltag.
In den Medien dominieren die Bilder, wie Sandsäcke an den Einsatzstellen verteilt wurden. Nachdem Fahrzeuge im aufgeweichten Untergrund nicht mehr vorankommen, ist Handarbeit gefragt: Mit Menschenketten werden die Sandsäcke zu einem provisorischen Deich aufgeschichtet.
Die kräftezehrende Arbeit ist jedoch nur die eine Seite. Die andere ist, überhaupt Sandsäcke zum Verlegen zu bekommen. Das gelingt auf dem Wunstorfer Baubetriebshof. Hier ist der Ausgangspunkt der Wunstorfer Sandsacklogistik. Am 27. Dezember werden die Feuerwehren der Stadt parallel zu zwei großen Einsätzen alarmiert: Während die eine Gruppe direkt zur Kläranlage Luthe fährt, um dort die Anlage zu sichern, wird die zweite Gruppe zum Sandsackfüllen kommandiert.
Als das Hochwasser die Stadt überflutet, werden an den neuralgischen Punkten auf einmal viele Sandsäcke gebraucht und auch verbaut – vor allem in Idensen und an der Kläranlage Luthe werden sie benötigt, um provisorische Dämme gegen das Wasser zu errichten oder vorhandene Wälle zu verstärken. Aber sie liegen nicht bereit, mit einer solchen Überflutung hat in Wunstorf niemand gerechnet. Wunstorf zählt seit der Aueregulierung Anfang der 1970er Jahre nicht mehr zu den besonders von Hochwasser betroffenen Gebieten. Ausweichflächen für Leine und Westaue haben sich in der jüngeren Vergangenheit stets als ausreichend erwiesen – mehr oder weniger. Bis zum Dezember 2023.
Nun drohen Überschwemmungen, die nicht nur einzelne Grundstücke, sondern ganze Quartiere und auch kritische Infrastruktur unter Wasser setzen können. Pumpeneinsatz und Sandsackverlegung im Kampf gegen das Wasser ist angesagt. Einsatzfertige Sandsäcke fehlen nun – und sogar die leeren Säcke zum Befüllen, die plötzlich in ganz Niedersachsen zum raren Gut werden. Sie werden aus den Feuerwehrzentralen der Region aus Ronnenberg und Neustadt beschafft.
Eine Infrastruktur zum Befüllen von Sandsäcken gibt es in Wunstorf ebenfalls nicht – sie wird nun schnell improvisiert. Baubetriebshofmitarbeiter, Feuerwehr und Johanniter bilden das Sandsacknetzwerk. Es gelingt, nur an diesem Tag über 11.300 Sandsäcke herzustellen.
Absperr-Pylonen werden umgedreht in quergelegte Leitern gesteckt, sie dienen als Sandeinfüllstutzen. Damit werden die Sandsäcke auf effektive Weise befüllt. Geschaufelt werden muss natürlich von Hand. Kipplaster liefern neuen Sand aufs Gelände, Radlader verteilen ihn zu den aufgebauten Sandabfüllstationen. Unter freiem Himmel und in Hallen wird geschaufelt und geschleppt, was das Zeug hält. Die gefüllten Sandsäcke werden anschließend zu Paletten zusammengestellt, Gabelstapler laden sie in die eintreffenden Lastwagen. Die Dezemberkälte ist vergessen, man kommt ins Schwitzen. Die Atmosphäre ist trotz des dramatischen Grundes für den Einsatz locker.
Nicht alle der Säcke kommen auch an diesem Tag zum Einsatz, aber gut die Hälfte wird zum Bau des provisorischen Deichs an der Kläranlage genutzt. Der Rest wird gelagert und in den Folgetagen verwendet, auch neue Sandsäcke werden weiterhin befüllt.
Transportiert zu den Einsatzstellen werden die Sandsäcke von den Johannitern, die neben dem THW über die entsprechenden Transportkapazitäten verfügen. Palettenweise werden die fertigen Sandsäcke in die großen LKW der Johanniter verladen und zu den Einsatzstellen transportiert. Mit hohem Tempo bei eingeschaltetem Blaulicht geht es durchs Industriegebiet weiter Richtung Leinehochwasser ins nordwestliche Luthe. Der Sandsacknachschub wird dringend gebraucht.
Allein 30 Johanniter sind im Rahmen der Sandsacklogistik im Einsatz, darunter auch Andreas und Sarah Heckermann – Vater und Tochter. Die beiden stehen in der grau- und orangefarbenen Kleidung der Johanniter auf dem Bauhofgelände und warten auf die nächsten Palettenfahrer. Andreas Heckermann wirkt wie der typische „alte Hase“ im Einsatz, dabei ist es in Wirklichkeit umgekehrt: Sarah Heckermann ist die „Dienstälteste“ und gibt den Ton an beim Beladen des LKW.
Ihren Vater hat sie einst ebenfalls für das Ehrenamt bei den Johannitern begeistern können. Nun fährt der den mit Blaulicht ausgestatteten Einsatz-LKW, der normalerweise in ganz Deutschland bei Großeinsätzen zur logistischen Verwendung kommen kann – an diesem Tag bleibt er in Wunstorf und transportiert die tonnenschwere Sandsackladung in die Einsätze.
Neben dem großen Blaulicht auf dem Führerhaus hat der Lastwagen auch am Heck noch ein einzelnes Blaulicht installiert, damit auch nachfolgende Fahrzeuge die Einsatzsituation erfassen können. Dass Lastwagen mit scheinbar rasanter Geschwindigkeit zu Einsatzstellen unterwegs sind, das sieht man nicht oft. Aber es sind letztlich auch keine normalen LKW, sondern Spezialfahrzeuge der Einsatzkräfte. Antrieb, Bereifung und Fahreigenschaften sind nicht mit normalen Lastwagen vergleichbar, erzählt Heckermann. Beladen wird der LKW jedoch nicht bis unters Dach, sondern nur mit jeweils etwa einem halben Dutzend Paletten. Obwohl mehr möglich wäre, ist der Transport auf diese Weise einfacher und damit schneller durchzuführen.
Die Ausladung vor Ort an der Kläranlage funktioniert ebenfalls wie eingespielt – obwohl der gesamte Ablauf Neuland ist in Wunstorf. Die Paletten werden vom Hof der Kläranlage an den Rand der Klärbecken gebracht, dort befindet sich der Beginn der Menschenkette aus Feuerwehrkräften. Ein Sandsack nach dem nächsten wird weitergereicht und unter Anleitung des anwesenden THW-Fachberaters zu einem großen weißen Damm aufgeschichtet. Die nun leeren Paletten werden direkt weiterbenutzt zur Schaffung eines provisorischen Weges für die Menschenkette im sumpfigen Boden.
Die Anstrengungen sind erfolgreich, die Wunstorfer Kläranlage kann gerettet werden. Der Sandsack-Deich hat gehalten. Als das Hochwasser im Januar zurückgeht, ist die Anlage wieder im Normalbetrieb. Eine Sandsackreserve lagert weiterhin in der Nähe.
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