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Mit der Kraft der Hellebarde – der Nachtwächter von Wunstorf

19.03.2024 • Daniel Schneider • Aufrufe: 1559

Seit 2023 hat Wunstorf wieder einen Nachtwächter. Dieter Kohser hat das historische Vorbild wiederbelebt und bietet nun als städtischer Stadtführer selbst eine anschauliche Reise in Wunstorfs Geschichte. Auf der Straße wird er manchmal aber verwechselt.

19.03.2024
Daniel Schneider
Aufrufe: 1559
Mit scharfem Blick wacht er über Wunstorf – Dieter Kohser in der Rolle des historischen Wunstorfer Nachtwächters | Foto: Daniel Schneider

Fast unbemerkt schleicht er sich heran, im dunklen Gewande. Mit breitkrempigem, schwarzem Hut, in der einen Hand fest die Hellebarde, in der anderen die Laterne. Doch sein Ruf zur Nacht hallt laut durch die Gassen der Stadt und dringt in jede Mauerritze: „Hört ihr Leut und lasst euch sagen, unsre Glock hat neun geschlagen. Bewahrt das Feuer und das Licht und vergesst das Beten nicht …“

Es ist der Nachtwächter von Wunstorf, und er ist neu in der Stadt. Zumindest in unseren Tagen. Seine historischen Vorbilder wachten einst darüber, dass die Bürger der Stadt ruhig schlafen konnten, dass kein Funke zu viel flog und ein Feuer entfachte oder Diebe und Plünderer nicht den Schutz der Dunkelheit nutzten, um ihren Schandtaten nachzugehen. In anderen Städten war er längst wieder auferstanden und gehört zum Pflichttermin von Touristen und Einheimischen, doch in Wunstorf ließ seine Reaktivierung noch auf sich warten. Bis Dieter Kohser kam.

„Wenn ich in einer Stadt Urlaub mache, dann mache ich immer eine Führung mit“, erzählt er, und wenn es sie gebe, dann bevorzuge er die Nachtwächterführung. Denn dann seien die Städte ganz ruhig, und es ergebe sich ein ganz anderer Eindruck. „Das muss doch auch hier gehen“, hätte er sich gesagt – und trat mit seiner Idee an die Stadt heran. Und es ging.

Nachtwächterausstattung: Laterne, Signalhorn, Kochlöffel und Hellebarde | Foto: Daniel Schneider

Gearbeitet hat Kohser zuvor als Fahrdienstleiter in Hannover, 2021 ging er in den Ruhestand. Er trat in den Heimatverein ein, hat sich ein halbes Jahr Zeit genommen, Literatur vom Heimatverein und Stadtarchiv gewälzt, alte Akten der Nachtwächter durchforstet. Nach Stadtführerausbildung samt strenger Abschlussprüfung wurde er so schließlich persönlich zum Wunstorfer Nachtwächter. Im Januar 2023 legte er zum ersten Mal Mantel und Hut an und führte durch die Nacht. Als die Presse aufmerksam wurde, waren die weiteren Termine im Frühjahr sofort ausgebucht.

Wie sehen es die Kollegen? Nach dem Motto: Jetzt kommt da der Kohser und stellt mit dem Nachtwächter die Stadtführungen auf den Kopf? Schräge Blicke von den Kollegen habe es nicht gegeben, erzählt Kohser. „Wir sind alle verschieden“, sagt er, und es gebe auch niemanden, der ebenfalls in die Rolle schlüpfen wolle. Allerdings soll es schon Teilnehmer gegeben haben, die eine andere Tour buchten, und dann enttäuscht waren, dass sie nicht vom „Nachtwächter“ angeführt wurde. Das deutet darauf hin, dass Kohsers Idee funktioniert, denn es geht ihm nicht nur darum, das Angebot der Stadtführungen zu erweitern – er möchte auch eine neue Identifikationsfigur für Wunstorf schaffen.

Anfangsschwierigkeiten: Die Durchgangshöhe moderner Gebäude ist bisweilen nicht mehr nachtwächterfreundlich | Foto: Daniel Schneider
Wo der Nachtwächter auftaucht, erregt der „dunkle Geselle“ Aufsehen | Foto: Daniel Schneider

In Gesellschaft mit dem Henker

Auch seine historischen Vorbilder waren meist Quereinsteiger und übten zuvor andere Berufe aus. Obwohl wichtig für die Stadtgesellschaft, war der Job aber keineswegs hoch angesehen. Der Nachtwächter rangierte im einstigen Wunstorf etwas über dem Abdecker, der auch der Henker war. Der Abdecker war das Paradebeispiel der unreinen Berufe – deren Angehörige in keiner Zunft waren oder mit blutigen Tätigkeiten zu tun hatten. Auch der Metzger zählte etwa dazu. Unrein war der Nachtwächter nicht, aber trotzdem nicht ehrenwert, berichtet Kohser: Der Nachtwächter war der schlechtbezahlteste Bedienstete in Wunstorf, und er galt auch im übertragenen Sinne als „dunkler Geselle“: Welcher der braven Bürger konnte schon sicher wissen, ob jener in der Nacht womöglich mit dem Teufel paktierte?

Die Stadt war auf die Wachbarkeit des Nachtwächters angewiesen, aber man traute ihm nie ganz über den Weg. Das geringe Ansehen hat sich in der Sprache bis heute gehalten: „Du Nachtwächter“ ist keine schmeichelhafte Bezeichnung. Spätestens Spitzwegs berühmtes Gemälde des eingeschlafenen Nachtwächters hat sein negatives Image geprägt.

Sobald die Nacht anbricht, bricht der Nachtwächter auf | Foto: Deppe/Dombrowski

Kohser spielt mit dem Morbiden, hat Freude an der Verkleidung und gibt zu, dass ihm das Ganze selbst auch einen Heidenspaß macht. „Ich lache gerne, und ich möchte, dass die Leute sich amüsieren.“ Ein bisschen extrovertiert müsse man dafür sein.

Fürs Auepost-Interview hat sich der Nachtwächter neuen Typs – ganz untypisch – am Tage in voller Montur in die Innenstadt begeben und zieht sofort staunende Blicke auf sich. Kinder stehen mit großen Augen und offenem Mund vor der Erscheinung, und auch Erwachsene bemerken verstohlen-fasziniert: „Mit Hellebarde!“ Aber auch mit Batman wurde er schon einmal verwechselt.

Sieht das etwa aus wie Batman? Die Kennzeichen des Nachtwächters: Mantel und Hellebarde | Foto: Deppe/Dombrowski

Ein anderes Mal wurde seine Gruppe von Jugendlichen angesprochen: „Gegen was demonstriert ihr denn?“ Der Nachtwächter, so scheint es, muss sich seinen Platz im Bewusstsein der Wunstorfer erst noch zurückerobern.

Ohne Waffenschein

Sein Outfit hält ihn in der Nacht warm, hält Kälte und Regen ab. Hellebarde, schwarzer Hut und Umhang sind gewissermaßen seine Dienstkleidung, und sie gehören tatsächlich der Stadt. Zum Ankleiden benötigt Kohser eine Viertelstunde. Die Hellebarde ist dabei ein wenig Folklore, sie ist historisch für Wunstorf nicht belegt – ausgeschlossen ist es aber nicht, dass sie auch in der Stadt einst zum Einsatz kam. „Ganz viele Nachtwächter hatten eine“, sagt Kohser. Sie erfüllt drei Funktionen: Mit der Spitze konnte jemand aufgespießt werden, mit dem Haken ließen sich Reiter vom Pferd ziehen – und mit der breiten, beilartigen Seite konnte Holz zerhackt werden. Das war nützlich, wenn brennende Balken von einem Gebäude weggezogen werden sollten.

Kohsers Waffe ist Requisite und nicht scharf – einen Waffenschein bräuchte er jedoch in keinem Fall. „Ich könnte auch mit einer Armbrust durch die Stadt laufen, und es wäre nicht verboten.“ Die Polizei jedenfalls grüße ihn, den Nachtwächter, immer freundlich, das seien schließlich Kollegen, lächelt Kohser.

Kohser möchte eine neue Identifikationsfigur für Wunstorf schaffen | Foto: Daniel Schneider

Ist er mit der Hellebarde schon einmal irgendwo hängengeblieben? „Ja“, gibt Kohser entschuldigend grinsend zu. Die Höhe eines Durchgangs in der Nordstraße hatte er falsch eingeschätzt. Probleme bereitet ihm noch ein weiteres Nachtwächterutensil – das mitgeführte Signalhorn. „Ich schaffe es fast nie, da einen Ton rauszubringen“, sagt Kohser und schaut skeptisch auf das Mundstück. „Muss ich ja auch nicht … nur, wenn es brennt“, ergänzt er und ist damit sofort wieder in seiner Rolle. Ohnehin sei es wohl besser, wenn man in Gefahrensituationen „Feuer, Feuer“ rufe. Feuer sei die Urangst des Menschen. Das Trompetensignal würde heute niemand mehr verstehen.

„Eine Rute ist ein halber Klafter – es ist so einfach …“

Den angebotenen Kaffee trinkt Kohser ebenfalls schwarz. War der Nachtwächter ein Junggesellenjob oder war man verheiratet? „Ja, der Nachtwächter war in der Regel verheiratet“, erzählt Kohser, und berichtet von einem praktischen Vorteil: Wenn der Mann einmal krank war, konnte seine Frau den Job heimlich übernehmen – unter Hut und Kapuze war nicht mehr zu erkennen, wer daruntersteckte. Nur zur Nacht rufen durfte die Gattin dann nicht – aber alle sahen: der Nachtwächter ist unterwegs. Ansonsten hatten Frauen keinen Zugang zum Beruf, es gab keine Nachtwächterinnen. „Frauen sind dafür leider nicht geeignet“, sagt Kohser augenzwinkernd, mit Nachtwächter-Stimme eindeutig aus der Vergangenheit sprechend.

Zurück ins Jahr 1860

Die Grenzen zwischen damaligem und heutigem Nachtwächter verschwimmen etwas, wenn Kohser bei seinen Führungen ebenso darauf achtet, dass niemand mit offenem Feuer hantiert. Wenn er den Nachtwächter gibt, dann sieht er die Welt mit den Augen des Jahres 1860. „Sie denken schon dran, dass Sie Ihre Laterne mitnehmen müssen? Anordnung des Bürgermeisters! Das nächste Mal muss ich Sie melden“, bekommen Teilnehmer schon mal zu hören. Gegen die Mitnahme von Taschenlampen hat er nichts einzuwenden, hält sie dann aber natürlich für „Zauberstäbe“. Auf seinen Führungen gilt der Fuß und das Klafter. Wenn er gut drauf ist, und das ist Kohsers Natur, rechnet er für seine Zuhörer die Klafter in Ruten um. „Eine Rute ist ein halber Klafter – es ist so einfach …“, schmunzelt er.

Dieter Kohser als Nachtwächter unterwegs im modernen Wunstorf: „Die Kutschen sind heute wieder schnell unterwegs.“ | Foto: Daniel Schneider

Kohser liebt es, zu erzählen und die Leute plastisch mitzunehmen in das Wunstorf der Vergangenheit. Jahreszahlen werden auch einmal genannt, aber sie sind nicht die Hauptsache. „Ich will, dass die Leute was davon haben“, das ist sein Anspruch. Er berichtet über die Menschen, über die Stadt, über das Nachtwächterwesen. Manchmal wundert er sich jedoch, dass so wenig nachgefragt wird, wenn er die nächste Sehenswürdigkeit „in 400 Ruten“ ankündigt. Auch weshalb er neben dem Signalhorn auch noch einen Holzlöffel umgehängt hat, traut sich meist niemand von sich aus zu fragen.

Seine Tour führt durch die historische Altstadt, beginnend vom heutigen Rathaus, am Südwall entlang, zum Alten Markt, zurück über die Lange Straße, am Ratskeller vorbei in die Nordstraße, Wasserzucht und zur Stiftskirche. In der Stiftskirche nutzt er die mächtigen Mauern für seine Inszenierung. „Ich will jetzt nicht zu viel verraten, aber ich mache da was …“, sagt Kohser geheimnisvoll mit leuchtenden Augen. Aber er erzählt keine erfundenen Geschichten – alles, was er berichtet, ist historisch verbürgt und nachweisbar. Auch gestaltet er seine gut anderthalbstündigen Touren nie identisch, keine Führung gleicht der anderen.

Die Feuersirene des Mittelalters: Das Signalhorn des Nachtwächters | Foto: Daniel Schneider
Der Nachtwächter wirft lange Schatten in Wunstorf | Foto: Daniel Schneider

Warum hat er sich das Jahr 1860 ausgesucht als Ankerpunkt, wollen wir wissen. Das habe verschiedene Gründe, berichtet Kohser. Es gab in dieser Zeit viele Umbrüche, anhand derer sich Veränderungen gut darstellen lassen. 1847 sei der Bahnhof in Betrieb genommen worden, das Amtsgericht in Neustadt wurde eröffnet, so dass der Bürgermeister nicht mehr Stadtrichter war – und das Wesentliche: Die Stiftskirche wurde in jenen Jahren renoviert und erhielt ihr heutiges Aussehen.

Video: Der Nachtwächter ruft zur Nacht

Wenn er könnte, würde er lieber in einer anderen Stadt Stadtführer sein? „Nein, ich bin ein richtiger Wunstorfer“, sagt Kohser entschieden. 1956 geboren, wuchs er im ehemaligen Kolenfelder Weg auf – heute die Kolenfelder Straße. Die noch unbebaute Barne kennt er aus Kindertagen.

Nur in der dunklen Jahreszeit

Im November beginnt Kohser mit den Nachtwächterführungen, bis sie im März wieder enden. Geeignet sind sie ab einem Alter ab etwa 10 Jahren. Etwa die Hälfte der Teilnehmer sei aus Wunstorf, die andere Hälfte von außerhalb. Die Touren kämen gut an, und die Leute seien stets erstaunt, wie schön Wunstorf ist. Wo liegt seine persönliche Grenze bei der Teilnehmerzahl? „Achtzehn Personen“, meint Kohser. Weil er dann zu laut sprechen muss, um alle zu erreichen? „Nein, wenn’s mehr sind, fangen einige an zu quatschen. Das stört die anderen – und den Nachtwächter.“ Am meisten ärgere ihn, wenn ihm Leute nicht zuhörten. Zur Ordnung rufen könne er, als Nachtwächter habe er Autorität. Das uniformähnliche Gewand sorge dafür, dass eine gewisse Ehrfurcht entstehe – vor dem Amt des Nachtwächters. Doch das sei nicht Sinn der Sache.

Über die Sommermonate zieht sich der Nachtwächter in die Ratsgewölbe zurück | Foto: Daniel Schneider

Verloren hat er auf seinen Führungen bislang noch niemanden, alle kamen am Ende wieder am Ausgangspunkt an. Dumme Fragen kennt Kohser nicht – aber verunsichern ihn besonders schlaue oder neunmalkluge Teilnehmer? „Nein“, sagt der Wunstorfer Nachtwächter. „Ich habe immer die Kraft der Hellebarde.“

Diese Reportage war Titelgeschichte im Auepost Nr. 25.
Mitarbeit: Lilja Lerch

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Kommentare


  • Jens Käschel sagt:

    Eine sehr begrüßenswerte kulturelle Neuigkeit in Wunstorf. Das wertet eine Stadt auf und ist interessant.
    Gibt es einen Link für Buchungen oder habe ich deb übersehen?

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