Neben dem Grundbedürfnis der Nahrung steht ein weiteres Grundbedürfnis des Menschen: das Wohnen. Doch auch das funktioniert nicht lückenlos in unserer Stadt. Für die, die aus welchen Gründen auch immer keine Wohnung haben, ist der Tagestreff eine regelmäßige Anlaufstelle. Der Tagestreff für obdachlose Frauen und Männer, wie die Einrichtung in Trägerschaft der Diakonie offiziell heißt, residiert seit 2011 in der Barne, erst in 5 Behelfscontainern, inzwischen im Neubau des evangelischen Gemeindezentrums. Zuvor war man lange am Alten Markt vertreten, seit 1988 gibt es den Tagestreff schon.
Doch ausgerechnet beim Tagestreff treffen wir einen Obdachlosen, der sich paradoxerweise alles andere als arm bezeichnen würde: Bert W. (Name geändert) Er ist 62 Jahre alt und lebt auf der Straße. Aber nicht gezwungenermaßen, sondern aus eigener Entscheidung. Bert ist Aussteiger aus freien Stücken. Er entsagte 2006 der bürgerlichen Existenz, gab Hab und Gut auf und übernachtete fortan im Freien. In seinem früheren Leben war er 10 Jahre lang verheiratet, arbeitete als Steinsetzer, Dachdecker, Garten- und Landschaftsgärtner. Er habe nichts gelernt, aber viel gemacht, sagt er. Im Jahr 1981 wäre er beinahe nach Kanada emigriert, doch die Liebe, seine spätere Ehefrau, hielt ihn dann in Deutschland. Er hat zwei inzwischen erwachsene Töchter. Mit 49 Jahren entschied er sich für ein Leben unter freiem Himmel. Da war er schon geschieden. Seine Töchter hätten gesagt „Du bist verrückt!“, wollten sein Erbe nicht schon annehmen. Inzwischen könnten sie es ein bisschen verstehen, sagt Bert.
Die Menschen wissen gar nicht, was sie verpassen, wenn sie wirklich im Kopf frei sind.
Bert W.
Ganz offen, locker und vertrauenerweckend sitzt er uns gegenüber. Das lange, ergraute Haar ist zu einem Zopf gebunden, seine blauen Augen schauen wach aus einem markanten, wettergegerbten Gesicht mit Rauschebart. Auf dem Kopf trägt er einen schwarzen, breitkrempigen Hut, den er auch im Raum nicht abnimmt. Bekleidet ist er mit einer grauen Cargohose und einem Seemannspullover. Auf die Finger der linken Hand hat er die Buchstaben „LOVE“ tätowiert – eine Jugendsünde, wie er sagt. Wäre man nicht im Wunstorfer Tagestreff, sondern in den Alpen, man würde ihn wahrscheinlich für den urigen Berghüttenwirt halten. Mit eloquenten Worten und angenehm sonorer Stimme erzählt er aus seinem jetzigen Leben.
Eine seiner Töchter wohnt in Schaumburg, dort hat Bert auch ein Zimmer. Drei Wochen maximal hält er es dort aus, dann zieht er wieder weiter. Der Kopf sage „ich muss los“, erzählt er uns. Nach Wunstorf komme er deswegen immer, weil es auf dem Weg liege, wenn er zwischen Hannover und Schaumburg unterwegs sei. Alle paar Wochen trifft man ihn in der Auestadt. Er ist einer der Fahrradfahrer, die mit dichtbepackten Taschen auf der Barnestraße radeln, um zum Wunstorfer Tagestreff zu kommen. Seit 2007 ist er immer wieder zu Gast.
Ich hab‘ alles, was ich brauch‘. Wenn ich nicht zufrieden wäre, würd ich’s ändern.
Bert W.
Sein bevorzugtes Fortbewegungsmittel ist sein Fahrrad. Aber er nimmt gelegentlich auch den Zug, um nach Hannover zu kommen. In den Packtaschen hat er einen Schlafsack, Kochutensilien, ein Zelt für den Notfall – und sein Notebook. Eine vernünftige Ausrüstung sei das A und O, sagt er. Er ist hauptsächlich in Deutschland unterwegs, weil es hier „gut funktioniere“. Deutschland habe sehr schöne Ecken, vor allem wenn man sie mit dem Fahrrad besuche, aber es sei leider auch sehr überlaufen. Wo man hinkäme, seien schon Menschen da. Aber auch durch Frankreich, die Niederlande und Spanien sei er schon gefahren. Doch sein jetziger Aktionsradius ist die Gegend um Hannover. Wenn Bert in Wunstorf Station macht, dann nutzt er zur Übernachtung einen Unterschlupf im Wald als Obdach. Das Zelt, das er auf dem Fahrrad dabeihat, muss er in Wunstorf nicht aufschlagen.
Sein Freiheitsdrang hat ihn auf die Straße geführt. Die Menschen seien alle von der Bank abhängig, weil das Haus noch nicht bezahlt sei. „Ist das leben?“, fragt er rhetorisch. Er sei keinesfalls abgeschottet von der Gesellschaft, sagt er, er bekomme mit, was er mitbekommen wolle. Der Rest interessiere ihn nicht. Den Wahlsieg eines grünen Bürgermeisters in Hannover habe er z. B. registriert. Aber mit der Gesellschaft kann er nicht viel anfangen. Bert versucht jede Form des Stresses zu vermeiden. Er habe Mitgefühl für die Leute, die im Hamsterrad gefangen seien. Die meisten Leute wären glücklich, wenn sie sich neue Schuhe kaufen, wüssten aber gar nicht, was echtes Glück sei. Die Menschen würden genau das machen, was die Wirtschaft wolle. Er hingegen schätzt seine Freiheit kompromisslos. Ein Hund als Begleiter käme für ihn nie in Frage, das wäre schon wieder eine Einschränkung.
Warum gibt es 800 Shampoos?Bert W.
Bert W.
Die innere Ruhe, die er sich verordnet hat, strahlt er auch selbst aus. Er hängt dem tibetanischen Buddhismus an. Eine Meditationskette trägt er um das Handgelenk gewickelt. Den Besuch des Dalai Lama in Wunstorf hat er damals verpasst. Als Missionar sieht er sich nicht. Auch das wäre Stress. Zur Tafel geht er nicht, er kauft ganz normal im Supermarkt ein. Seine Kleidung kauft er auch stets selbst. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit ALG II. Staatliches Geld anzunehmen, sich von der Allgemeinheit finanzieren zu lassen und damit selbst gewählter Nutznießer der Leute im Hamsterrad zu sein, darin sieht Bert kein Problem. „Der Staat hat es so eingerichtet, warum soll ich das nicht nutzen?“, sagt er. Außerdem seien das nur Minimalbeträge. Wenn man Millionen in einen brachliegenden Berliner Flughafen stecken könne, dann spiele das andere keine große Rolle. Beim Jobcenter hat er zudem das Gefühl, als würde mit den Arbeitslosen nur Geld verdient. Er selbst sei dort nur geduldet. Armut sei auch ein riesiges Geschäft in Deutschland.
Er bettelt nicht, das sei verlorene Zeit. Generell meidet er Innenstädte. Manchmal geht er für eine halbe Stunde in die Fußgängerzonen von Hannover, sieht sich den „Schwachsinn“ an und wisse dann wieder, dass er alles richtig gemacht habe. Er achtet sehr auf seinen Körper, raucht nicht, trinkt nicht, lebt vegetarisch. Für Obdachlose mit Alkoholproblemen hat er kein Mitleid. Sie seien selbst schuld, wenn sie so lebten und immer nur in einer Großstadt herumhingen. Wer auf der Parkbank liege und saufen würde, käme da nicht mehr heraus. Man hätte tausend und eine Chance, etwas aus seinem Leben zu machen.
Er versucht, Vorbild zu sein, inzwischen gebe es 3 bis 4 andere Obdachlose, die ihm und seinen Einstellungen nacheiferten. Selbst aktiv suche er keine Gesellschaft, die Menschen, denen er unterwegs begegne, reichten ihm.
Weiß ich, was morgen ist?
Bert W.
Manchmal bekommt er Geld geschenkt. Ob er auch Anfeindungen ausgesetzt sei auf der Straße, wollen wir wissen. Doch Leute, die gegen ihn seien, kenne er gar nicht, sagt Bert. Er würde eher beneidet, dass er so frei im Geiste sei. Dreizehn Jahre sei er nun unterwegs und habe dabei noch nichts wirklich Negatives erlebt in dieser Hinsicht. Im Gegenteil: Oft würden Menschen, die das Gespräch mit ihm gesucht hätten, um ihm zu helfen, am Ende selbst von den Gesprächen profitieren. Am Ende sei er es, der die Probleme der Leute zu hören bekomme, sagt Bert. Er hört sich alles geduldig an. Die meisten wollten von sich erzählen, denn „endlich höre mal einer zu“. Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens bekomme er oft zu hören. Vor allem mit Muslimen habe er darüber schon sehr lange Unterhaltungen geführt.
Sein Tagesablauf ist routiniert. Vormittags liest er, holt sein Geld ab, frühstückt. Um vier wird es derzeit schon wieder dunkel. Dann meditiert er, macht Yoga. Oft sitze er auch einfach nur im Wald und sei da. Wenn er unterwegs sei, dann suche er sich meist einen Unterstand im Wald zum Übernachten. Sonst baue er das Zelt auf. In Notunterkünfte bringt ihn nichts. Mit 20 Bettlern und Drogenabhängigen auf einem Zimmer, die sich alle übergeben, das würde er meiden, sagt Bert. Gerade die Drogenabhängigen seien hochgradig gefährlich, viele kämen direkt aus der Psychiatrie, hätten Neurosen.
Ich setz’ mich in den Wald und bin einfach nur da.
Bert W.
Wenn er in Wunstorf Station macht, lässt er sich seine Post zum Tagestreff schicken. Doch bald wird Bert wieder eine eigene Anschrift haben, denn er ist gerade dabei, ein wenig sesshafter zu werden. Bei Hannover hat er sich ein Gartengrundstück gepachtet, auf dem er sich langfristig eine Art Wochenendhaus bauen will, natürlich ohne fremde Hilfe. Das Grundstück hat er über Ebay Kleinanzeigen entdeckt. Übergangsweise hat er sich nun aber zunächst ein großes Tipi bestellt, um es dort zu errichten – mitsamt Ofen.
Armut in Wunstorf
Teil 1: Die Tafel Wunstorf
Teil 2: Zuhause im Wunstorfer Wald
Teil 3: Im Wunstorfer Obdachlosentreff
Dieser Text erschien als Teil der Titelgeschichte zuerst in Auepost 12/2019
Ich sage es mal so, dass muss jeder für sich entscheiden wie er leben möchte wenn Bert so wie seit nun mehr 13 Jahren lebt, glücklich und zufrieden ist dann ist das Ok. Ich habe ihn glaube ich auch schon mal in Wunstorf getroffen. Für mich wäre das nichts so zu leben.