Wunstorfer Auepost
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Die Lebensretter vom Düendorfer Weg

22.03.2021 • Daniel Schneider • Aufrufe: 3682

„Der Tod ist ein regelmäßiger Begleiter“: Eigentlich würden sich Notfallsanitäter gern auf wirkliche Notfälle konzentrieren können – doch auch in Wunstorf wird für Banalitäten gerne die 112 gewählt. Daher sind sie oft gar nicht „zu Hause“, sondern kämpfen sich gegen die Ignoranz im Straßenverkehr durch zu echten und weniger echten Notfällen. Wir durften uns genauer in der Wunstorfer Rettungswache der Johanniter Unfallhilfe umsehen …

22.03.2021
Daniel Schneider
Aufrufe: 3682

Mitten in Wunstorf steht sie, die Rettungswache der Johanniter. Von hier aus starten die Rettungswagen des Rettungsdienstes der Region Hannover zu ihren Einsätzen. Die Auepost durfte einen genaueren Blick riskieren, wie in Wunstorf das Rettungswesen funktioniert, wenn zwischen Leben und Tod manchmal nur Minuten liegen.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Bereit zum Ausrücken: die beiden in der Kernstadt stationierten Rettungswagen | Foto: Johanniter

Ein kleiner Kratzer, ein oberflächlicher Schnitt, ein wenig Blut, aber als stark empfundene Schmerzen – und die „112“ wird gewählt. Das passiert auch in Wunstorf nicht gerade selten. Dabei ist das die Nummer von Feuerwehr und Rettungsdienst. Letzterer ist, wie der Name bereits vermuten lässt, eigentlich dazu da, um Leben zu retten, und nicht, um hausärztlich relevante Verletzungen zu versorgen.

Die Leitstelle bei der Berufsfeuerwehr Hannover, wo alle Anrufe auflaufen, auch wenn man in Wunstorf die 112 wählt, gibt sich alle Mühe, die echten Fälle von den weniger dringenden zu separieren – und nennt bei harmloseren Anrufgründen dann auch die richtige Nummer, die 116-117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes – für alle, die kein Heftpflaster zu Hause haben und es daher nicht mehr selbst zum Hausarzt schaffen. Doch auch die Leitstelle weiß letztlich nicht, ob es wirklich nur ein „Kratzer“ ist oder die Hand im Grunde schon in Fetzen vom Arm herabhängt. Daher wird im Zweifel dann doch der Rettungswagen auf den Weg geschickt.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Keine Leitstelle, sondern Einsatzzentrale der Johanniter in Wunstorf | Foto: Johanniter

„Wer einen Rettungswagen bestellt, der bekommt auch einen“, sagt Michael Merz. Der 51-Jährige musste persönlich den Rettungsdienst zwar noch nie rufen, aber er fährt oft „auf der anderen Seite“ mit – Merz leitet die Rettungswache bei den Johannitern in Wunstorf. Er koordiniert dabei aber nicht nur, sondern ist auch selbst auf dem Rettungswagen im Einsatz.

In Coronazeiten sei es ironischerweise besser geworden. „Wir haben ein Drittel weniger Einsätze gefahren“, sagt Merz. Die Menschen riefen nun tatsächlich seltener den Rettungsdienst. Die Angst, ins Krankenhaus gebracht zu werden, das in diesen Zeiten beinahe schon als „Seuchenzentrum Nr. 1“ wahrgenommen wird, überwiegt. Bei manchen ernsten Fällen würden die Sanitäter daher bisweilen sagen: „Es wäre besser gewesen, wenn Sie vier Stunden früher angerufen hätten!“ Doch außerhalb von Pandemien gehören unsinnige Rettungseinsätze zum Tagesgeschäft für die Retter.

Jeder verständigt wegen jedem kleinen Wehwehchen gerne mal den Rettungsdienst

Michael Merz

Diese Sorglosigkeit ärgert Merz sichtlich. Viele hätten inzwischen eine Mentalität entwickelt, die sich zusammenfassen ließe als „Warum soll ich denn meinen Hintern zum Hausarzt bewegen und mich dort in ein volles Wartezimmer setzen?“, berichtet der Wunstorfer. „Hausbesuche“ über den Rettungsdienst seien doch viel bequemer, ergänzt er ironisch. Mancher würde auch mit der Erwartung „Ich will jetzt sofort Hilfe haben“ an den Rettungsdienst herantreten – die Wörter sofort und jetzt doppelt unterstrichen.

Es kommt immer wieder vor, dass jemand um 22 Uhr wegen starker Schmerzen den Rettungsdienst rufe – und vor Ort stellt sich dann heraus, dass die Schmerzen nicht plötzlich aufgetreten sind, sondern schon seit zwei Wochen bestanden. „Aber nun soll endlich mal was passieren“, fasst Merz es mit einem unsichtbaren Augenrollen zusammen. Statt rechtzeitig zumindest zum Hausarzt zu gehen, wird der Rettungsdienst bemüht. Dadurch müssen dann echte Notfälle womöglich länger auf einen Rettungswagen warten. „Die Ressource Rettungswagen ist begrenzt“, sagt Merz.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Michael Merz | Foto: Mirko Baschetti

Die Mentalität der Menschen hätte sich dabei im Laufe der Jahre geändert, hin zu einer teils extremen Anspruchshaltung, sagt Merz. Die Gruppe, die den Rettungsdienst nur dann anruft, wenn sie ein wirklich ernstes Problem habe, werde kleiner, die Bequemlichkeit nehme zu. Eine bestimmte Klientel gebe es dabei nicht, sagt Merz, das Phänomen sei über alle Altersklassen und Bevölkerungsschichten hinweg zu beobachten. Allein die Älteren würden oft unnötig lange warten, etwa in der Nacht nicht den Notruf wählen, um „niemandem zur Last zu fallen“. „Dafür sind wir da, Sie können uns auch nachts um 3 anrufen“, würden die Sanitäter entgegnen.

Genau das ist auf der anderen Seite eine Schwierigkeit, denn die eigene Wahrnehmung, was ein ernstes Problem ist, kann je nach Persönlichkeit stark unterschiedlich ausfallen. Was für den Fachmann eine Bagatelle ist, kann sich für den medizinischen Laien wie ein unaufschiebbarer Notfall anfühlen. Hinter „Ich hab ’ne furchtbar stark blutende Handverletzung“ könne sich sowohl der oberflächliche Schnitt mit dem Brotmesser als auch der Griff in die Kreissäge verbergen, erklärt Merz. Auch das Schmerzempfinden ist bei jedem Menschen unterschiedlich.

Merz kann es aber ein Stück weit nachvollziehen: „Die bundeseinheitliche Nummer hat sich bis heute nicht in den Köpfen der Menschen festgesetzt“, meint er, denn die Qualität des früheren ärztlichen Notdienstes werde über das neue System nicht mehr erreicht. Früher gab es noch eine örtliche Rufnummer, die direkt von den Johannitern organisiert wurde. Nun kann man sich nur noch über ein Callcenter Hilfe holen – und das kann durchaus eine Weile dauern, bis man alle Ansagen und automatischen Abfragen überwunden hat und nicht sogar in der Warteschleife steckenbleibt. „Eine einheitliche Nummer ist eine gute Sache, aber das entstandene System ist nicht gut“, ist Merz’ Ansicht. Das ginge dann am Ende wieder zu Lasten des Rettungsdienstes.

Merz nennt ein konkretes Beispiel: Wenn das kleine Kind nachts 39 Grad Fieber bekäme und man dann ellenlang in der Leitung hänge oder gar herausfliege, dann würden die Eltern die nächste Nummer versuchen – und das wäre dann meist die des Rettungsdienstes. Der kann dann aber auch nicht wirklich helfen, darf vor Ort keine Rezepte ausstellen oder Medikamente herausgeben. Im Grunde also eine Fahrt umsonst für den Rettungsdienst – und die Eltern des fiebernden Kindes haben immer noch nicht das ersehnte Rezept für die Apotheke. Eine Nummer für alles, das wäre wahrscheinlich ideal, doch ohne Strukturveränderungen wäre dies nicht umsetzbar, mutmaßt der Wunstorfer Notfallsanitäterchef. Die Leitstelle für Feuerwehr und Rettungsdienst könne nicht auch noch den ärztlichen Bereitschaftsdienst managen, zumal es keine Ärzte in der Leitstelle gebe, die bei der Entscheidungsfindung, was Notfall sei oder nicht, einbezogen werden könnten. So bleibt es dabei, dass der Einzelne sich vorher Gedanken machen muss, ob er die 116-117 oder die 112 wählt.

In der Wunstorfer Rettungswache

Es kam stattdessen sogar schon einige Male vor, dass jemand direkt in der Rettungswache angerufen hat, um Hilfe im Notfall zu erhalten. Das ist nun wirklich keine gute Idee. Denn oft sind die Rettungswagenbesatzungen gar nicht dort anzutreffen. Manche denken, dass es auch am Düendorfer Weg eine Art Leitstelle gibt, doch das ist nicht der Fall. Die Rettungswache ist im Grunde nur die Basis für die beiden Wunstorfer Rettungswagen und das Team – die Aufenthaltsstation für die Sanitäter bis zum nächsten Einsatz und Rettungswagengarage. Es dauert nicht lange, und schon sind auch am Tag unseres Besuchs alle diensthabenden Kollegen im Einsatz, die Rettungswagen allesamt unterwegs.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Die Wunstorfer Rettungswache | Foto: Mirko Baschetti

„Wir sind eben häufig mal nicht da“, sagt Merz. Genügend „häusliche“ Zeit bleibt dennoch, denn die Mitarbeiter verbringen ein gutes Drittel des Monats in der Wache. Im Obergeschoss gibt es einen Gemeinschaftsraum mit Kunstledersitzgruppe in Johanniterrot und Massagesessel, beliebt ist aber vor allem der Tagesaufenthaltsraum im Erdgeschoss samt Küche. Hier am Tisch sitzt man, macht sich etwas zu essen und wartet auf den nächsten Einsatz. Von hier führt auch eine Tür zur großen Terrasse – dem Lieblingsplatz des Teams im Sommer. Abgetrennt durch Sichtschutz hat man es sich hier gemütlich gestaltet, sogar einen Gasgrill gibt es. Grillen während der Dienstzeit, diese Möglichkeit gibt es nicht überall – doch hier auch immer auf die Gefahr hin, das Würstchen fallen lassen zu müssen, wenn der nächste Einsatz kommt.

Merz selbst geht nie ohne Frühstück in den Einsatz, weil man nie weiß, ob man überhaupt noch Zeit dafür hat in den kommenden Stunden. Die meisten Einsätze würden morgens, vormittags und am frühen Abend gefahren. Je mehr Menschen bei der Arbeit oder in der Schule sind, desto mehr Unfälle geschehen. „Je mehr Menschen unterwegs sind, desto höher das Einsatzaufkommen“, erklärt Merz die simple Gleichung. Noch während Merz erzählt, startet ein Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn zum nächsten Einsatz Richtung Innenstadt.

Bei 24-Stunden-Schichten schlafen die Mitarbeiter auch in der Rettungsstelle, dafür gibt es drei spartanische Schlafräume. Viel mehr als ein Bett und ein Fernseher passen dort nicht hinein. Im Keller befinden sich weitere Duschen und Umkleiden samt Spinden, im Erdgeschoss einige Funktionsräume. Etwa das Medizinlager. Alles, was während eines Einsatzes im Rettungswagen benötigt wird, kann hier bevorratet und wiederaufgefüllt werden. Am meisten verbraucht werden Handschuhe, Einmallaken für die Tragen, Fleecedecken, Infusionslösung samt Zubehör, Spritzen und Verbandsmaterial. Entsprechend viel Müll fällt täglich bei den Einsätzen an, der bei Rückkehr zur Wache entsorgt werden muss. Auch Medikamente werden immer wieder nachgefüllt. Dabei werden auch viele Arzneien vorgehalten, die eigentlich nicht benötigt werden, aber laut Vorgaben vorhanden sein müssen, beispielsweise ein Gegenmittel bei Heroinüberdosierung.

Der Desinfektionsraum neben der Fahrzeughalle übernimmt eine Schleusenfunktion: Hier hängen Schutzbrillen und Handschuhe an den Wänden, hier werden Desinfektionsmittel angemischt, wenn ein Rettungswagen einmal stärker desinfiziert werden muss als üblich, weil etwa Patienten mit ansteckenden Infektionskrankheiten transportiert wurden. Hier können die Sanitäter dann auch ihre eigene Dienstkleidung ablegen und sich dekontaminieren. Mit neuer Einmalkleidung betritt man dann erst wieder die eigentliche Wache und zieht sich um. Möglicherweise infektiöse Kleidung kommt in besondere Hygienesäcke und landet ohne weiteren Kontakt zu Menschen in der Reinigung. Die Säcke lösen sich dazu später in den Waschmaschinen einfach auf.

Es ist eine moderne Wache, erst seit 2005 sitzt man am Düendorfer Weg. Zuvor hatte man ein Domizil „An der Nonnenwiese“, ganz früher in der Mühlenkamp- und Barnestraße. ASB, DRK und Johanniter teilen sich das Regionsgebiet, jeder fährt in seinem Bereich. Früher gab es in der Wedemark auch noch einen Privatanbieter, der bei der letzten Ausschreibung jedoch nicht mehr den Zuschlag bekam. Seit den 1980er Jahren wird der Rettungsdienst im Bereich Wunstorf von den Johannitern gestellt. Rettungstechnisch ist Wunstorf damit Johanniter-Land und dürfte es auch bleiben. Zwar wird die Leistung durch die Region immer wieder neu ausgeschrieben, doch bestehende Strukturen begünstigen den Fortbestand – die Regularien, die Neubewerber erfüllen müssten, sind streng.

Konkurrenz im Rettungsdienst gibt es ohnehin nicht – man arbeitet zusammen, erklärt Merz. Das war vor vielen Jahren einmal anders, aber heutzutage wäre alles eng verzahnt. In alten Zeiten wäre es vorgekommen, dass Rettungsdienste sich gegenseitig die Patienten abgenommen hätten, wenn über Funk gehört wurde, dass man näher an einer Einsatzstelle war. So etwas gibt es heute nicht mehr.

Amüsant mutet der kleine Verbandskasten im Eingangsbereich der Wache an – doch Vorschrift ist Vorschrift. Auch ein Rettungswagen muss einen Verbandskasten an Bord haben, unabhängig davon, dass man einen halben Operationssaal mit sich führt. Schließlich muss man den bei einer Verkehrskontrolle vorzeigen können. Den Verbandskasten, nicht den OP, wohlgemerkt.

Die Rettungswagen

In der Fahrzeughalle ist Platz für die beiden Rettungswagen, die in Wunstorf in Betrieb sein müssen. Ein Rettungswagen ist rund um die Uhr in Bereitschaft, ein weiterer tagsüber zwischen 7 und 19 Uhr. Ein weiterer 24-Stunden-Rettungswagen ist in Steinhude stationiert.

Das Innere der Rettungswagen ist erstaunlich geräumig, es bleibt viel Platz zum Arbeiten am Patienten. Dabei ist zu bedenken, dass nicht nur ein oder zwei Besatzungsmitglieder hier im Ernstfall hantieren, sondern auch noch ein Notarzt und weiterer Sanitäter hinzukommen. Zwei Meter sollte man nicht groß sein, aber mit durchschnittlicher Statur kann man im Rettungswagen problemlos aufrecht stehen und sich frei bewegen.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Rettungswache Düendorfer Weg | Foto: Johanniter
Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Im Rettungswagen | Foto: Johanniter
Medikamente
Im Rettungswagen mitgeführte Medikamente werden regelmäßig aufgefüllt | Foto: Mirko Baschetti

Dass die Rettungswagen modern aussehen, ist nicht nur ein Eindruck, sie sind es. Das liegt daran, dass sie nach maximal 6 Jahren bzw. 200.000 Kilometern ausgetauscht werden. In Wunstorf „halten“ Rettungswagen im Schnitt 4 Jahre – andere Rettungswachen müssen ihre Fahrzeuge manchmal sogar alle 18 Monate austauschen, erzählt Johanniter-Dienststellenleiter Bernd Stühmann. In Wunstorf liegt man somit gut im Mittelfeld. Auch nicht die kompletten Fahrzeuge werden dann „entsorgt“, nur das eigentliche Fahrzeug aus Karosserie und Motor wird neu beschafft. Der sogenannte Aufbau, der „Kasten“, wird aufbereitet und wiederverwendet, denn das enthaltene medizinische Equipment unterliegt ohnehin eigenen Haltbarkeitszeiträumen. Einmal lässt sich ein Wagen auf diese Art auffrischen, nach einer zweiten Dienstzeit wird er weiterverkauft, ergänzt Norman Brockhoff, Fuhrparkleiter bei den Wunstorfer Johannitern. Neue Rettungswagen seien letztlich Maßanfertigungen, erzählt er: welche Ausstattung ein Rettungswagen am Ende hat, selbst ob mehr oder weniger Blaulichter integriert werden, ist konfigurierbar.

Der auffällige gelbe Radmutternschutz auf den Felgen sind dabei ein Extra mit ernstem Hintergrund: Es verhindert, dass sich jemand am während eines Einsatzes geparkten Rettungswagen zu schaffen macht und die Radmuttern löst. In Wunstorf soll es noch nicht geschehen sein, doch in anderen Städten wäre es vorgekommen, „weil das ja so lustig ist, wenn ein Rettungswagen mal ein Rad verliert“, resigniert Michael Merz. Daher geht man bei den Johannitern lieber auf Nummer sicher.

Weil das ja so lustig ist, wenn ein Rettungswagen mal ein Rad verliert

Das Innere wirkt ansonsten wie der fahrbare Behandlungsraum einer Arztpraxis, was ein Rettungswagen letztlich auch ist. In grauen Vorzeiten, die tatsächlich noch gar nicht so lange zurückliegen, bestand der Rettungsdienst nur aus dem Fahrer, dessen Aufgabe es war, den Patienten so schnell wie möglich ins nächste Krankenhaus zu bringen. Erst dort begann die Behandlung. Heutzutage setzt das Bemühen um den Patienten sofort ein – und alle dazu nötigen Gerätschaften führt der Rettungswagen mit: EKG, Defibrillator, Beatmungsgerät, Absaugpumpe, Thermoboxen für Infusionen – und eine halbe Apotheke. Herzstück ist die Trage, die im Rettungswagen zugleich die Funktion einer Behandlungsliege hat. Die neueren Modelle lassen sich elektrohydraulisch bedienen – und von den Rettungskräften schnell in jede benötigte Position bringen.

Im Fahrerbereich finden sich ein Panel für die Bedienung der Sondersignalanlagen sowie ein Monitor. Er dient als Rückfahrkamera und Navigationsgerät. Über den Sitzen klemmen Helme wie jene der Feuerwehr – auch der Rettungsdienst arbeitet manchmal unter erschwerten Bedingungen. Die Besatzung besteht immer aus mindestens zwei Einsatzkräften.

Am Wochenende lieber keinen Herzinfarkt

Die Einsatzbefehle samt Adresse auf der Karte bekommen die Besatzungen von der Leitstelle direkt auf das Navi geschickt, sie müssen sich die Anschriften nicht selbst heraussuchen. Überhaupt spielt der Zeitfaktor im Rettungswesen eine übergeordnete Rolle. Eine sogenannte Hilfsfrist ist landesweit vorgeschrieben: 95 Prozent der Einsatzorte sollen innerhalb von 15 Minuten erreicht sein. Damit liegt Niedersachsen im oberen Feld. In anderen Bundesländern sind es oft nur 12 oder 10 Minuten.

Bei unserer Frage, ob es dementsprechend „gesünder“ ist, in Steinhude oder Wunstorf statt in Kolenfeld zu leben, muss Merz lachen. Wer sogar genau gegenüber der Wunstorfer Rettungswache wohnt, fühle sich vielleicht besser versorgt im Falle eines Notfalls, aber so könne man das nicht sehen. Denn die Rettungswagen starten zu neuen Einsätzen auch von unterwegs und kehren nicht jedes Mal in die Wache zurück, bevor der nächste Patient versorgt wird. „Anschlusseinsätze sind eher die Regel als die Ausnahme“, berichtet Merz. Die Wagen sind so ausgestattet, dass sie mehrere Einsätze nacheinander ausführen können – außer, es muss aufwändiger desinfiziert werden, zum Beispiel nach einem Meningitis-Verdacht. Aber auch dann wäre ein Fahrzeug aus dem System abgemeldet und stünde nicht zur Verfügung. Das kann sogar mehrere Stunden dauern, wenn man beispielsweise von der MHH komme und auf dem Rückweg im Stau stehe, skizziert Merz ein Szenario. Denn mit Blaulicht darf man nicht zur Desinfektion fahren.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Rettungswagen vor der Notaufnahme des Neustädter Krankenhauses | Foto: Johanniter
Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Rettungswagen im Einsatz | Foto: Johanniter

Wenn gerade alle Wunstorfer Rettungswagen im Einsatz sind, kann es daher auch einem Anwohner aus dem Düendorfer Weg passieren, dass erst ein anderer Rettungswagen aus Neustadt oder Schaumburg anrücken muss. Auch die Johanniter fahren bisweilen in andere Rettungswachenbereiche wie Garbsen, Barsinghausen oder Seelze, wenn dort gerade viele Notfälle gleichzeitig auftreten. Die Einsatzleitstelle berechnet computergestützt, welcher Rettungswagen am geeignetsten ist. Statistisch gesehen müssen die Kolenfelder trotzdem etwas länger auf einen Rettungswagen warten als die Kernstädter oder die Steinhuder – weil hier die Chance gar nicht besteht, dass der Rettungswagen gerade direkt in der Wache vor Ort in Bereitschaft ist. Die Anfahrt dauert dann länger, die vorgegebenen 15 Minuten würden trotzdem eingehalten. „Das ist schon eine sportliche Zeit“, meint Merz. Bei einem Patienten, der keine Luft mehr bekommt, sei das dennoch eine Ewigkeit, gibt er zu. Wie man beispielsweise 5 Minuten flächendeckend realisieren könnte, das kann Merz sich jedoch realistischerweise nicht vorstellen. Der dazu nötige Personalaufwand wäre immens.

Wohin die Rettungswagen einen Patienten bringen, der ins Krankenhaus muss, hängt von der aktuellen Kapazität der Kliniken und dem Erkrankungsbild ab. So verfügt Neustadt – das normalerweise am häufigsten angefahren wird – zwar über ein Herzkatheterlabor, das für Patienten mit diagnostiziertem Herzinfarkt benötigt wird, doch von Freitagnachmittag bis Montagmorgen ist es nicht in Betrieb. Daher landen „Herzinfarkte“ am Wochenende in Gehrden oder in Hannover, im Siloah-Krankenhaus oder der Medizinischen Hochschule. Natürlich steuert der Rettungswagenfahrer eine Klinik auch nicht auf Verdacht an, weil er weiß, dass es irgendwo eine passende Fachabteilung gibt. Über die Rettungsleitstelle wird Rücksprache mit den jeweiligen Krankenhäusern gehalten, ob ein Patient aufgenommen werden kann. Haben die Häuser im Umkreis gerade keine Kapazitäten, dann kann es auch passieren, dass man als Notfall in einer weiter entfernten Klinik landet. Auch die Wunstorfer Retter fahren bisweilen nach Vehlen, Nienburg oder Großburgwedel. „Ich will das nicht Notfalltourismus nennen … aber wir fahren nicht immer nur nach Neustadt“, klärt Merz auf. Letztlich entscheidet die Leitstelle, an welchem Ort ein Patient akkurat versorgt werden kann. Typische „Herzinfarkttage“ gibt es übrigens nicht. „Das sind Bauernweisheiten“, sagt Merz.

Im Rettungswagen stirbt niemand

40 Minuten lang kann der Weg in eine Klinik sein, „wenn’s ganz unglücklich läuft“, wie Merz berichtet. Doch für die Besatzungen sei das normal. Ob das nicht eine Gefahr für die Patienten darstelle, fragen wir erstaunt. Und was macht eine Rettungswagenbesatzung eigentlich, wenn jemand auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt? Merz schüttelt entschieden den Kopf. „Im Rettungswagen stirbt so gut wie niemand, das kann eigentlich nicht passieren“, sagt er. Entweder der Tod sei schon vor Ankunft der Retter eingetreten – oder der Patient versterbe später im Krankenhaus. Dass auf halbem Wege die „Instrumente abgestellt“ werden, so etwas gebe es nicht. Es würde bis zum Erreichen einer Klinik weiterreanimiert. Wer einmal in den Händen der Rettungssanitäter und des Notarztes ist, wird am Leben erhalten, auch wenn der Zustand instabil bis kritisch ist. Genau dafür sind die Notfallsanitäter ausgebildet. Wiederbelebung vor Ort oder im Rettungswagen – und notfalls auch während der Fahrt ins Krankenhaus. „Beatmung, Narkose, alles ist möglich“, sagt Merz. Reanimiert werde auch dann, wenn es aussichtslos erscheint – zuletzt habe er ein ertrunkenes fünfjähriges Mädchen ins Krankenhaus begleitet. Trotz „desolater“ Prognose habe man alles versucht, um das Kind wieder ins Leben zurückzuholen, jedoch letztlich vergeblich.

Wir sind hier mit Sicherheit keine völlig empathielosen Wesen, denen nichts nahegehen würde

Michael Merz

Erlebnisse wie diese müssen Notfallsanitäter bewältigen können. „Die Bilder bleiben im Kopf“, sagt Merz, der sich an viele zurückliegende Einsätze im Detail erinnert. Aber man dürfe nicht zulassen, dass sich die Einsätze auf die eigene Psyche auswirkten. „Da gibt es gute Mechanismen“, sagt der Rettungsstellenleiter. Wenn jemand eine Auszeit brauche, werde er eine Zeitlang nicht auf dem Rettungswagen, sondern vielleicht im Krankentransport eingesetzt, auch eine psychosoziale Notfallversorgung besteht. Der Ortsverbandsarzt oder die Ortsverbandspastorin könnten kontaktiert werden, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Längere Dienstunfähigkeiten infolge von Einsatzgeschehen sind Merz aber nicht bekannt. „Schlimme“ Einsätze kann man sich im Team gegenseitig ansonsten auch nicht abnehmen. Wer zu welchem Einsatz fährt, das entscheidet die Leitstelle, es ist Zufall, ob jemand zum schlimmen Verkehrsunfall mit reanimationspflichtigen Unfallopfern oder zur besagten Brotmesserberührung ausrückt. Alarmiert wird immer ein Wagen, nicht eine bestimmte Crew.

Umgekehrt gilt das Prinzip übrigens nicht: Zu Geburten kommt es im Rettungswagen durchaus, wenn auch sehr selten. Merz hat ein knappes Dutzend während seiner Zeit im Rettungsdienst erlebt. Die zählen übrigens nicht unbedingt zu den „schönen“ Einsätzen. Wenn es hier zu Komplikationen kommt, kann sich auch eine Geburt zu einem dramatischen Einsatz entwickeln. „Je jünger die Menschen sind, die betroffen sind, desto größer der Stress“, erklärt Merz die Situation für einen Sanitäter.

Wann der Notarzt dazukommt

Wenn der US-Präsident in ein Transportmittel der amerikanischen Luftwaffe steigt, dann wird dieses automatisch zur „Air Force One“. Steigt ein Notarzt in einen „RTW“, den Rettungswagen, wird dieser zum „NAW“, zum Notarztwagen. Dass der Notarzt meist später am Einsatzort eintrifft und nicht sofort im Rettungswagen mitfährt, liegt daran, dass der Rettungsdienst im sogenannten Rendezvoussystem arbeitet: Notfallsanitäter und Notarzt kommen getrennt zum Einsatzort und treffen sich erst dort. Der Hintergrund, dass getrennte Fahrzeuge verwendet werden, ist die Effizienz des Systems. Ein Notarzt kann dadurch für mehrere Rettungswagen zur Verfügung stehen und ist nicht auf einen bestimmten festgelegt. Denn nicht für jeden Rettungsdiensteinsatz wird auch ein Notarzt benötigt. Deswegen gibt es neben den RTWs auch noch den „NEF“ – den Notarzteinsatzwagen. Der wiederum ist im Fachjargon eigentlich nur ein „Notarztzubringer“, um den Notarzt im Rahmen des Rendezvoussystems mit der Rettungswagenbesatzung zusammenzuführen.

Einsatz Fröbelschule
Notarzteinsatz in Wunstorf | Foto: Daniel Schneider

Vieles können Notfallsanitäter ohne Hinzuziehen eines Arztes leisten. Ein Arzt wird jedoch zwingend benötigt für die Gabe von Narkosemitteln oder für die Intubation von nicht bewusstlosen Patienten, wenn etwa eine künstliche Beatmung eingeleitet werden soll. Kritische Kreislaufzustände, Bewusstlosigkeit und starke Schmerzen sind ebenso ein Grund, den Notarzt hinzuzuziehen. Der Notarzt für den Bereich Wunstorf wird meist aus Neustadt geschickt. Bei bestimmten Einsatzlagen wird er gleichzeitig mit dem Rettungswagen alarmiert, stellt die Rettungswagencrew erst vor Ort fest, dass ein Notarzt erforderlich ist, wird er nachträglich losgeschickt.

Rettungsdienstwissen
 RTW = Rettungswagen, der mit Geräusch und Blaulicht
 KTW = Krankentransportwagen, der ohne Geräusch und Blaulicht
 NEF = Notarzteinsatzfahrzeug, Taxi mit Blaulicht für den Notarzt
 NAW = Notarztwagen, RTW inkl. Notarzt; mal mit, mal ohne Blaulicht
 RTH = Rettungs-(Transport-)Hubschrauber, NEF mit wenig Bodenhaftung, mit Positionslicht

Gearbeitet wird stets gemeinsam. „Wir sind ein Team“, beschreibt es Merz. Ein hierarchisches Gefälle gebe es im Einsatz nicht, doch der Notarzt hat im Zweifel das letzte Wort im Rettungswagen, der jedoch ebenso auf die Erfahrung der Notfallsanitäter baue. „Du bist der Arzt, mach mal“, so würde man nicht arbeiten im Rettungswagen. Falls es dazu käme, dass ein Notarzt einmal eine völlig unorthodoxe Behandlung einschlagen würde, bekäme er von den Sanitätern deutlich eine „zweite Meinung“ unterbreitet.

Ob ein Notarzt die Rettungswagencrew weiter bis zur Klinik begleitet, hängt ebenfalls vom Krankheitsbild und Zustand des Patienten ab. Entweder meldet sich der Notarzt dann wieder frei und steht für den nächsten Rettungswagen zur Verfügung – oder er bleibt beim Patienten bis zur Klinik. Das NEF folgt dem Team dann und sammelt den Notarzt später wieder ein.

Black Box Patient

Auch angegriffen werden Rettungswagenbesatzungen in Wunstorf von Zeit zu Zeit. Von Patienten, die „neben der Spur sind“ und ausrasten, aber auch von Angehörigen. Das käme aber glücklicherweise sehr selten vor, berichtet Merz. In die Zeitung schaffte es etwa der Vorfall, bei dem zwei Kolleginnen von Merz zum Einsatz fuhren – und sich auf einmal in einem Familiendrama wiederfanden. Der Vater, in einem psychischen Ausnahmezustand, ging mit dem Messer auch auf die Sanitäterinnen los. Die beiden konnten flüchten und auf die Polizei warten, es kam niemand zu Schaden. Auch wenn nicht jedes Mal ein Messer im Spiel ist, gehören brenzlige Situationen bei psychiatrischen Notfällen zum Tagesgeschäft der Retter. Diese können vielseitig sein und sind im Vorfeld nicht einzuschätzen. „Da sieht dann jemand im Sanitäter womöglich nicht den Helfer, sondern einen Marsmenschen, der ihm etwas Böses will“, fasst es Merz salopp zusammen. „Da steckt man nie drin.“ Von der Leitstelle bekäme man oft nur den Einsatzhinweis „unklarer psychiatrischer Notfall“ – was sich dahinter verbirgt, müssen Merz und seine Kollegen selbst herausfinden.

Nicht „drin“ steckt man allerdings oft auch, ob ein Patient überhaupt Hilfe möchte. Manchmal wird sie abgelehnt, obwohl der Rettungswagen schon vor Ort ist. Etwa weil jemand anderes angerufen hat, der sich Sorgen gemacht hat, zum Beispiel über einen gestürzten Fahrradfahrer. Aber auch in ernsteren Fällen wird Hilfe manchmal abgelehnt. „Es gibt Menschen, die gehören aufgrund ihrer Erkrankung ins Krankenhaus, aber die wollen eben nicht“, beschreibt es Merz. Auch hier müssen die Rettungswagenbesatzungen ihre Distanz wahren, man darf trotz besseren Wissens niemanden zwingen. Eine Ausnahme besteht, wenn jemand nicht mehr selbst in der Lage ist, die Gefährlichkeit seiner Situation zu beurteilen, etwa weil Alkohol oder Drogen im Spiel sind. Dann kann der Notarzt eine Zwangseinweisung veranlassen und der Patient sogar mit Hilfe der Polizei in ein Krankenhaus gebracht werden.

Verkehrsunfall mit Rettungshubschrauber
Christoph 4 im Einsatz | Foto: Johanniter

Bei Patienten mit ungetrübtem Bewusstsein ist das nicht möglich, selbst wenn diese beispielsweise über massive Brust- und Herzschmerzen klagen – ein Infarktanzeichen. Als Notfallsanitäter versuche man dann zu überzeugen, erzählt Merz, man weise unmissverständlich auf die möglichen Konsequenzen hin. Es werde dann klar gesagt: „Sie können daran sterben!“ Wer dann immer noch Hilfe ablehne, werde um eine Unterschrift gebeten und die Situation protokolliert. Auch Angehörige lässt man ggf. unterschreiben, damit allen noch einmal ganz deutlich wird, dass es hier um eine ernste Entscheidung mit großer Tragweite geht – und natürlich sich selbst rechtlich abzusichern. „Wir müssen es nicht verstehen, aber wir müssen es akzeptieren“, sagt Merz. Der Patient verzichtet mit der Unterschrift aber keineswegs generell auf eine Behandlung. Wenn er es sich anders überlegt, kommt der Rettungswagen selbstverständlich erneut.

„Wenn es nicht gut ausgegangen ist, lesen wir davon manchmal in der Zeitung“, sagt Merz nüchtern. Auch was aus ihren übrigen Patienten wird, erfahren sie in der Regel nicht – der Datenschutz steht dazwischen. Gelegentlich erreicht sie eine Dankeskarte oder jemand kommt persönlich mit der traditionellen Packung Merci vorbei oder füllt die Kaffeekasse.

Daten und Fakten
  Knapp 40 Mitarbeiter arbeiten für die Rettungswache Wunstorf, davon 9 Auszubildende u. Aushilfen
  Die meisten Notfallpatienten rufen wegen Atemwegs- oder Herzproblemen den Rettungsdienst
  Pro Jahr werden knapp 7.000 Einsätze gefahren – etwa 600 im Monat
  Davon sind 30 % Krankentransporte und 70 % Notfalleinsätze
  Von der Leitstelle in Hannover werden von knapp 100 Mitarbeitern über 1,2 Millionen Menschen betreut
  Die Kosten für Rettungsdiensteinsätze zahlen die Krankenkassen

Manchmal entwickeln sich aber Einsätze auch unvorhergesehen. Merz erinnert sich an einen Einsatz, bei dem man zu einer hilfebedürftigen Frau in einem Mehrfamilienhaus in der Oststadt gerufen worden sei. Während der Einsatz schon lief, ging die Tür der Nachbarwohnung auf – und im Treppenhaus stand eine weitere Dame mit blasser Haut und Schweißperlen auf der Stirn. Merz hielt sie im ersten Augenblick für eine neugierige Nachbarin. „Manche Leute machen einfach die Tür auf, kommen in die Nachbarwohnung und fragen, was denn los sei“, berichtet er. Doch dann fiel ihm die geschwollene Zunge der Frau auf. Die Nachbarin hatte akute Atemnot aufgrund einer schweren allergischen Reaktion – und wurde nun praktisch zum Haupteinsatz. Ihr ging es schlechter als der Mieterin, zu der der Rettungswagen eigentlich gekommen war. Merz forderte den Notarzt und einen weiteren Rettungswagen nach und hatte nun zunächst einmal zwei Einsätze in einem. Das Team teilte sich auf und versorgte beide Frauen parallel, bis Verstärkung eintraf. Die Besatzung rettete der Frau das Leben – und der Zufall. Denn sie konnte nicht mehr sprechen und wäre nicht mehr in der Lage gewesen, zu telefonieren. Ohne Hilfe wäre sie wenige Minuten später erstickt.

Ansteckendes

Mittlerweile heißt der Beruf „Notfallsanitäter“ und steht für eine dreijährige Ausbildung. Zuvor gab es den Rettungsassistenten. Dazu kam der Rettungssanitäter, der jedoch kein voller Ausbildungsberuf war. Michael Merz hat alle drei Phasen durchlaufen. Nach zwei Weiterbildungen ist auch er nun Notfallsanitäter. „Ich denke mal, das war’s jetzt auch“, lacht er. Das allerdings hat er bereits widerlegt, denn seit vergangenem Jahr hat er auch noch die Qualifikation zum Helicopter Emergeny Medical Service Technical Crew Member, kurz „HEMS“, erreicht. Seitdem gehört er neben seinen Aufgaben in Wunstorf mit zur Crew von Christoph 4 – einem von zwei Rettungshubschraubern in der Region. Die werden von Piloten der Bundespolizei geflogen, Ärzten der MHH begleitet – und eben auch von speziell ausgebildeten Notfallsanitätern wie Merz.

Rettungshubschrauber
Michael Merz vor Christoph 4 | Foto: Johanniter

Die spektakulären Rettungseinsätze, von denen man in der Zeitung liest – Merz ist dann direkt dabei. Etwa zweimal im Monat leistet er Dienst auf dem Rettungshubschrauber, als „Springer“. Sein Platz ist vorne links neben dem Piloten, falls er nicht hinten beim Patienten gebraucht wird, und unterstützt den Piloten bei Navigation, Funk und Luftraumüberwachung, ist nicht nur begleitender Sanitäter, sondern Teil der fliegerischen Crew.

Auch der Rettungshubschrauber ist eigentlich nur ein Notarztzubringer, erklärt Merz. Bei einem schweren Verkehrsunfall auf der A 2 bei Luthe würde die Leitstelle eher den Hubschrauber als den bodengebundenen Notarzt schicken, da der Mediziner so schneller an die Unfallstelle komme. Gerade im ländlichen Bereich sei das oft ein entscheidender Faktor. Auch beim Transport von Patienten kann die Luftrettung ihren zeitlichen Vorteil ausspielen: Von Steinhude zur MHH sind des 10 Minuten Flugzeit – gegenüber einer halben Stunde mit dem Rettungswagen.

„Hier habe ich meine Passion gefunden“

Michael Merz

Angefangen hat für Merz alles mit dem Zivildienst nach dem Abitur 1989 in Wunstorf. Ursprünglich wollte er zur Bundeswehr, danach eine Banklehre machen oder BWL studieren. Ein Schulfreund brachte ihn dann auf die Idee: Er ging zu den Johannitern – „Rettungsdienst klingt spannend, das probier ich mal“ – und ist bis heute geblieben. Noch während des Zivildienstes machte er die Rettungssanitäterausbildung und hatte danach die Möglichkeit, gleich hauptberuflich weiterzuarbeiten. Denn damals befand man sich gerade in einer Umstellungsphase, es gab nur wenige hauptamtliche Sanitäter. Oft wurden sogar zwei Zivildienstleistende auf dem Rettungswagen eingesetzt – „so etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, es waren andere Zeiten“, erzählt Merz rückblickend. Später liebäugelte er noch einmal mit einem Medizinstudium, doch der Rettungsdienst ließ ihn da schon nicht mehr los, zumal er zu diesem Zeitpunkt schon fliegerische Luft bei Ambulanzdiensten geschnuppert hatte. „Das wollte ich nicht mehr für ein ungewisses Studium an den Nagel hängen“, sagt er.

So sitzt er heute mit verblichenem Captain-Picard-Kaffeebecher im ersten Stock als Leiter der Johanniter-Rettungswache in Wunstorf und kann auf 30 Jahre Erfahrung im Rettungsdienst zurückschauen. Mit der „Aufstiegschance“, einen Platz auf dem Rettungshubschrauber zu bekommen, ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Merz hat die Berufswahl nie bereut, trotz auch negativer Seiten. Man werde mit „unschönen Sachen“ konfrontiert, Krankheit und Tod gehörten dazu. „Der Tod ist ein regelmäßiger Begleiter“, sagt Merz. Man müsse in der Lage sein, damit umzugehen, auch mit dem nächtlichen Aufstehen bei Bereitschaftsdienst. Dann müsse man innerhalb von Minuten fit sein für den Einsatz – und das bis zu viermal pro Nacht. Dafür biete der Job einen hohen Freizeitfaktor.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Ein Miniaturhubschrauber als Mobile in Merz‘ Büro | Foto: Mirko Baschetti

Angesteckt mit dem SARS-CoV-2-Virus hat sich in den letzten Monaten niemand im Team, obwohl auch immer wieder COVID-19-Erkrankte gefahren werden. Zu Freistellungen kam es aber schon, nachdem Kollegen aus dem Urlaubs-Risikogebiet zurückkehrten und privat Kontakt zu bestätigten Fällen hatten. Der Dienstbetrieb sei dadurch aber nicht massiv beeinträchtigt worden, sagt Merz. Eher hole man sich einmal ein Norovirus, „das sind Sachen, die lassen sich nicht verhindern“, beschreibt er das allgemeine Berufsrisiko. Letztlich wisse man aber nicht, ob man sich bei einem betreuten Patienten oder am Griff des Supermarkteinkaufswagens angesteckt habe.

Manchmal ruft das Krankenhaus an und sagt „Der Patient, den Sie vorhin gebracht haben, hat eine bakterielle Meningitis“ – dann bekommen die Kontaktpersonen vorsorglich ein Breitbandantibiotikum. „Wenn man vorher weiß, was einen erwartet, kann man sich super schützen“, sagt Merz. Doch oft wisse man es auch nicht. Hepatitisimpfungen haben die meisten, ob er sich gegen Grippe impfen lässt, entscheidet jeder Mitarbeiter für sich selbst. Pflicht ist es nicht im Rettungsdienst.

Blaulicht? Was ist das?

Mehr Sorgen als wegen Viren und Bakterien macht man sich im Rettungsdienst bisweilen wegen der Mitmenschen. Vor Ersteren kann man sich einigermaßen schützen, vor Zweiteren oft nicht – zumindest nicht vor denen im Straßenverkehr. Wie nervenaufreibend Rettungswagenfahren ist, kann man sich als Außenstehender trotz aller Phantasie nicht wirklich vorstellen. Und zwar nicht unbedingt, weil es kein regelmäßiges Fahrsicherheitstraining für die Sanitäter gibt. Man könnte es vermuten, doch die Ausbildung beschränkt sich in diesem Punkt auf zwei Tage Rettungswagenfahren auf dem Verkehrsübungsplatz. Der Rest ist learning by doing. Neulinge werden natürlich nicht gleich mit Alarmfahrten ins kalte Wasser geschmissen.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Rettungswagen am Burgmannshof | Foto: Johanniter

Das Problem ist vielmehr die Ignoranz einiger Mitmenschen. Die Rettungswagen haben helles Licht und laute Presslufthörner – und werden oft trotzdem spät wahrgenommen, berichtet Merz. Manche scheine es auch nicht sonderlich zu interessieren. „Das kommt jeden Tag vor“, sagt Merz. „Dass uns Verkehrsteilnehmer ignorieren, obwohl wir uns mit einem lauten, bunten Auto nähern, das ist normal.“ Fahre der Rettungswagen auf der Gegenspur, würden manche Autos einfach weiter frontal auf sie zufahren und die Rettungswagenbesatzungen zu riskanten Ausweichmanövern zwingen. „Mir doch egal, ist doch nicht meine Gesundheit“, vermutet Merz hinter diesem Verhalten.

Ignorieren uns, obwohl wir uns mit einem lauten, bunten Auto nähern

Anfahrten zum Einsatzort sind dabei das Stressigste und Gefährlichste, erklärt Merz. Hierbei komme es besonders auf Schnelligkeit an, solange man noch nicht beim Notfallpatienten ist. „Lagemeldung Reanimation – da wird Gas gegeben“, sagt Merz es prägnant. Ob mit Blaulicht gefahren wird, entscheidet die Rettungsleitstelle – bei der Anfahrt. Sobald ein Patient an Bord ist, entscheiden Fahrer bzw. Team, ob von Sonder- und Wegerechten Gebrauch gemacht wird. In der Regel werde beim Transport ins Krankenhaus aber weniger dringlich gefahren, da der Patient eben schon versorgt werden kann.

Aber auch an den Einsatzstellen selbst stoßen die Mitarbeiter immer wieder auf Ignoranz. Schließlich suche sich ein Rettungswagen nicht erst einen Parkplatz, wenn es um jede Sekunde geht. „Dann ist die Straße temporär auch schon mal dicht“, beschreibt es Merz. Das interessiere aber längst nicht jeden. Die Leute fingen dann an zu hupen, die Mitarbeiter zu beschimpfen oder „Beweisfotos“ zu schießen, um letztendlich mit einer Anzeige zu drohen.

Johanniter-Rettungswache Wunstorf
Rettungswagen in Bereitschaft zur Absicherung der Feuerwehr bei einem Brandeinsatz in Wunstorf | Foto: Johanniter

„Wenn man auf jede Frotzelei anspringen würde, hätte man viel zu tun“, sagt Merz mit müden Augen. Als Notfallsanitäter würde man sich seinen Teil denken, aber es so gut es geht ignorieren. Selbst anzeigen würde der Rettungsdienst nur in gravierenden Fällen. „Die meisten Menschen sind einsichtig“, bricht Merz eine Lanze für alle Nicht-Rettungsdienst-Ignorierer, aber es gebe genügend sture Menschen, die sagen „Ich muss jetzt in meine Garage fahren. Jetzt.“ Wieder doppelt unterstrichen. Ob der Nachbar gerade auf dem Wohnzimmerboden liegt und reanimiert wird, spielt dann keine Rolle mehr.

Bei aller Dramatik und allen Unwägbarkeiten des Einsatzgeschehens macht man bei den Johannitern letztlich einen alltäglichen, nüchternen Job. Das Fernsehen hat vor kurzem angefragt, ob man für eine Vorabendserie in der Wunstorfer Rettungsstelle drehen könne. „Danke, aber danke nein“, hieß es dazu aus dem Düendorfer Weg. Eine Reihe, in der Dinge dramatisiert fernab der Realität dargestellt werden, darauf können die Sanitäter verzichten. Der ganz normale Alltag ist Aufregung genug.

Diese Reportage erschien zuerst in Auepost #13 (11/2020).

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Kommentare


  • Bernd-Michael Rosenbusch sagt:

    Man gegen der Trend für jeden „Furz“ einen Rettungswagen anzufordern ganz einfach gegensteuern. Für jeden nicht notwendigen Rettungswageneinsatz, der hinter festgestellt wird, sollte eine Gebühr von mindestens 100 @ fällig werden.

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