Wunstorfer Auepost
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Wunstorf erinnert sich: Als Hitler nach Steinhude kam

06.12.2023 • Achim Süß • Aufrufe: 3217

85 Jahre Reichspogromnacht: Anlass zu Gedenken und Erinnerung. Wunstorf hat Zeichen gesetzt mit dem intelligent austarierten Hindenburg-Pfad. Weitere Denkmale im Wortsinn folgen: Stolpersteine. Die Auepost beginnt dazu die Reihe „Wunstorf erinnert sich“. Welche Wurzeln hatte der Terror von NSDAP und SA? Lassen sich die unfassbaren Szenen erklären, die 1938 die Stadt veränderten – dort, wo heute die Fußgängerzone einlädt zum Flanieren und Kaufen?

06.12.2023
Achim Süß
Aufrufe: 3217
Vor eingeschlagenen Schaufensterscheiben: SA-Männer vor dem Wunstorfer Geschäft „Mendel und Schloß“ in der Langen Straße. Heute steht dort das Gebäude der Stadtsparkasse. Auf dem linken Rollladen ist der Schriftzug „Geh nach Amerika“ zu erkennen | Quelle: Archiv Heiner Wittrock

„Reichskristallnacht“ nannten Nationalsozialisten und ihre Unterstützer die gezielte Aktion gegen jüdische Mitbürger. Die Vokabel steht für gewalttätige Ausschreitungen in der Nacht zum 10. November 1938. Diese Pogrome hat es auch in Wunstorf gegeben. Die Stadt hatte gut 6.000 Einwohner, und im fünften Jahr von Hitlers Regime waren NSDAP, SS und SA längst bestimmende Machtfaktoren.

Die Unterstützung für die Braunhemden reichte weit ins sogenannte Bürgertum hinein. Trotz ihres aggressiven Auftretens war die Partei Hitlers, Rosenbergs, Goebbels’ und Görings salonfähig geworden. In Wunstorf wie überall im „Reich“. Wie sehr das Gedankengut der NSDAP verbreitet war, zeigte sich vollends 1938. Aus Isolation wurde Anfeindung, aus der Gewalt gegen Sachen der Terror gegen Menschen, Diskriminierung und Bedrohung wurden zu Vertreibung, Deportation, Gefängnis und Konzentrationslager.

Die Pogromnacht und die Tage danach hätten in einer anderen Gesellschaft ein Fanal sein können. Aber die Saat war aufgegangen, die hasserfüllte Propaganda der Nationalsozialisten hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, Andersdenkende waren eingeschüchtert oder außer Landes gegangen. Der Nachbar, mit dem man viele Jahre friedlich zusammengelebt hatte, der Kegelbruder, der Kollege aus dem Gesangverein, der hilfsbereite Uhrmacher, der freundliche Tuchhändler, der Schulkamerad ‒ sie alle wurden mit ihren Familien zu Staatsfeinden.

Die Stadt hat gerade buchstäblich Zeichen gesetzt mit der intelligenten und austarierten Installation des Informationspfads zum Thema Hindenburg. Weitere Denkmale im Wortsinn ‒ Stolpersteine und -schwellen ‒ sollen folgen. Sie gelten jenen Wunstorfern, die zwischen 1933 und 1945 verfolgt worden sind. Die Hindenburg-Installation hat die Diskussion über Straßenbenennungen erneut entfacht. Allerdings steht der breite öffentliche Diskurs aus - gerade in Zeiten, in denen sich Juden auch in Deutschland erneut nicht sicher fühlen dürfen. Für diese Dokumentation hat Auepost-Autor Achim Süß zahlreiche Quellen ausgewertet und Gespräche mit Klaus Fesche, Heiner Wittrock und Eberhard Kaus geführt.

Wunstorf war, wenn die Quellen vollständig sind, zwar kein braunes Nest gewesen, aber der Schoß – in Anlehnung an Bert Brechts Formulierung von 1941- war früh fruchtbar. Es war eine schleichende Entwicklung. Stadtarchivar Klaus Fesche, einer der profundesten Kenner der Stadtgeschichte, berichtet davon in seiner “Geschichte Wunstorfs”. Er hat recherchiert, dass die NS-Ortsgruppe vergleichsweise spät entstand, im Herbst 1930. Der SA gehörten in Wunstorf zwei Jahre später 100 Männer an, hat er herausgefunden.

Fesche weiß auch, dass Kronprinz Wilhelm, der Sohn des letzten deutschen Kaisers, 1932 in Steinhude an einem Treffen des Stahlhelms teilnahm. Das war der Bund der Frontsoldaten, eine 500.000 Mitglieder starke paramilitärische Organisation, rechtsgerichtet und in Opposition zur Weimarer Republik. Auch Hitler kommt im selben Jahr während einer Wahlkampfreise kurz nach Steinhude. Nicht einmal ein Jahr später ist er Reichskanzler.

Machtdemonstration: Mit Hakenkreuzflagge an Ratskeller und Rathaus vorbei. Umzug der SA Anfang der 1930er Jahre über den heutigen Wunstorfer Marktplatz | Quelle: Stadtarchiv Wunstorf

Die Machtübernahme mit der Hilfe des greisen Reichspräsidenten Hindenburg kommt im Januar 1933 nicht aus dem Nichts. Auch in Wunstorf wachsen NSDAP und SA. Sie wachsen zahlenmäßig, in ihrer Macht und Kampfbereitschaft. Sie liefern sich nicht nur Wortgefechte mit Sozialdemokraten und Kommunisten. Es kommt zu Schlägereien und Übergriffen. Ein starker, wenngleich zahlenmäßig unterlegener Gegner ist das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, ein politischer Wehrverband zum Schutz der Republik, eine unbewaffnete Schutztruppe für sozialdemokratische Veranstaltungen.

Schlacht am Alten Markt

Auch die KPD ist in Wunstorf stark vertreten. Der Archivar berichtet von einer „Schlacht am Alten Markt“ im März 1932, wo nach alten Quellen gut 100 SA-Männer auf 300 Kommunisten treffen. Steine fliegen, und es fließt Blut. Fesche schreibt zudem von einem Zeltlager des Reichsbanners in Steinhude, von dem aus Schutzleute nach Wunstorf fahren, um an der Lederfabrik an der Langen Straße eine Hakenkreuzfahne vom Schornstein zu reißen. Die NSDAP-Ortsgruppe hatte das Symbol 1932 angebracht, um ihren Machtanspruch zu unterstreichen. Ein Reichsbannermann stürzt ab, stirbt aber nicht, wie es die NS-Propaganda behauptet.

1932 ist das Jahr der zunehmenden Polarisierung: SPD und bürgerliche Parteien verlieren in Wahlen an Stimmen, während NSDAP und Kommunistische Partei zulegen. Bei der Reichstagswahl siegen die Nationalsozialisten in Wunstorf und Steinhude mit großem Abstand. Steinhude, eine Hochburg der SPD, wird braun. Die NSDAP hat inzwischen Ortsgruppen nicht nur in Steinhude und Großenheidorn, sondern auch in Kolenfeld, Luthe und Schloss Ricklingen.

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 ‒ in Wunstorf mit einem Fackelzug von SA, SS und dem Bund der Frontsoldaten gefeiert ‒ setzt im Reich und in der Stadt Veränderungen in Gang wie selten in der deutschen Geschichte. Fesche verschweigt das nicht und beleuchtet auch die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die Stadt Wunstorf: Noch 1933 gründet die NSDAP auf einem ehemaligen Exerzier- und Schießplatz der Reitenden Artillerie einen Stützpunkt ihrer paramilitärischen Tarnorganisation Deutscher Luftsportverband. Die „Verkehrsfliegerschule“ ist nichts anderes als der Startschuss für den Bau des Fliegerhorsts dort, wo er noch heute liegt. Die vermeintliche Fliegerschule wird in Großenheidorn Strand angesiedelt, das Fliegerheim im Strandcafé untergebracht, berichtet Heiner Wittrock in seinem Buch über den Fliegerhorst. Der Kolenfelder Autor weiter: „Da sich niemand der schon zu diesem Zeitpunkt lebenden Großenheidorner an eine Art Kleinflugplatz in dieser Gegend erinnern kann, muss davon ausgegangen werden, dass auf einer nahe zum Fliegerheim liegenden Wiese nur sporadisch Modell- und Segelflug betrieben wurde, so wie es der Wunstorfer Zeitung vom 8. Juni 1934 zu entnehmen war.“

Der Reichsarbeitsdienst baut am Fliegerhorst mit

An der Baustelle für den Fliegerhorst sind Tausende von Arbeitern aktiv, darunter viele aus 20 Wunstorfer Firmen und vom Reichsarbeitsdienst. Die Steinhuder Meer-Bahn richtet einen Busverkehr ein. Im April 1936 wird der Flugplatz mit einer Parade durch die Wunstorfer Altstadt der Bestimmung übergeben. Wunstorf wird Standort eines Teils eines Kampfgeschwaders. Das trägt den Namen des Erste-Weltkrieg-Jagdfliegers Oswald Boelcke. An der nach ihm benannten Straße sind Wohnblocks für Soldatenfamilien entstanden, ebenso an der Hindenburg- und der Frankestraße. Die Gebäude stehen immer noch. Die Wunstorfer Gruppe des Geschwaders hat drei Staffeln mit 36 Maschinen. Sie werden Teil der Legion Condor und greifen auf der Seite des faschistischen Generals Franco in den Spanischen Bürgerkrieg ein. Offiziell wird das nicht. Die Wunstorfer Flieger reisen, als Privatpersonen getarnt, nach Spanien – so wie die gesamte Einsatzvorbereitung geheim abläuft.

Die Legion Condor und damit Wunstorfer Männer unter der Führung von Wolfram von Richthofen, eines Vetters des „Roten Barons“, zerstört die baskische Stadt Guernica. Hunderte, nach anderen Schätzungen bis zu 2.000 Menschen sterben. Der Angriff empört die Welt, hat aber keine juristischen Folgen für die Soldaten. Sie kehren nach Wunstorf zurück. Einige bleiben in der Stadt und gelten auch lange nach Kriegsende noch als Helden.

Demonstration gegen die Benennung der Oswald-Boelcke-Straße (Archiv) | Foto: Daniel Schneider

Das Boelcke-Geschwader ist am Überfall auf Polen, an der Bombardierung Englands und Frankreichs, der Luftschlacht um England oder dem Russlandfeldzug beteiligt. Die Auseinandersetzung um die Rolle des Fliegerhorsts und die Tradition der Luftwaffe dauert an bis in diese Tage ‒ nicht zuletzt deshalb, weil der Neustädter Arbeitskreis Regionalgeschichte um Hubert Brieden nicht müde wird, die Erinnerung an die Jahre der NS-Diktatur wachzuhalten. Die Benennung von Straßen nach Boelcke, seinem Kameraden Richthofen, selbst die nach den Heeresreformern Scharnhorst und Gneisenau ist für Viele fragwürdig geworden. In Wunstorf kommt das Thema erst gerade wieder auf die Tagesordnung, weil sich das Kollegium des Hölty-Gymnasiums gegen die weitere Verwendung des Namens Oswald-Boelcke-Straße ausgesprochen hat. Die Lehrer schlagen den früheren Schulleiter Peter Bertram, der die Schule 30 Jahre lang geführt und sich vielfältig in der Stadt engagiert hat, als Namensgeber vor.

Mit dem Fliegerhorst wird Wunstorf 1934 wieder Garnison: Knapp 70 Jahre nach dem Ende des Königreichs Hannover und der Aufgabe der Kasernengebäude der Reitenden Artillerie an der Südstraße (heute Klinikum) sind wieder Soldaten in der Stadt stationiert. Der Fliegerhorst wird über die Jahrzehnte zum bedeutenden Stützpunkt der Luftwaffe des „Reichs“, der britischen Royal Air Force und der Bundeswehr. Die Anlage des Lufttransportgeschwaders 62 gilt mit dem andauernden Ausbau als einer der modernsten militärischen Flugplätze Europas. Der Standort ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die riesige Airbus-Werkstatt, deren Bau gerade begonnen hat, erhöht die Bedeutung: 350 Arbeitsplätze sollen entstehen, die Zahlen der Neubürger – und Kunden – wachsen.

In Blumenau und Liethe entsteht 1935 eine „Aufsiedlung“: Weil ein riesiger Truppenübungsplatz bei Bergen-Hohne gebaut wird, müssen mehr als 3.600 Menschen aus Heide-Gemeinden ihre Heimat verlassen Die jüdische Gemeinde der Stadt, deren Wurzeln weit zurück reichen, wird komplett ausgelöscht. Jüdische Wunstorfer und Steinhuder werden vertrieben oder ermordet. Nach Kapitulation und Zusammenbruch kommen Tausende von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen in die Stadt und die Dörfer. Die Bevölkerungszahl wächst deutlich an, und die Gesellschaftsstruktur verändert sich.

Der Begriff Reichskristallnacht soll seinen Ursprung in den Glasscherben haben, die nach den Gewaltaktionen gegen Juden, die Synagogen, ihre Häuser und Geschäfte überall auf den Straßen lagen. „Reichskristallnacht“ wird längst als verharmlosende Wortprägung angesehen. Der Begriff „Reichspogromnacht“ hat sich erst Jahrzehnte nach den Taten durchgesetzt. Pogrom bezieht sich nicht nur auf antisemitische Ausschreitungen. Der Begriff stammt aus dem Russischen und bedeutet Verwüstung, Krawall oder Zerstörung.

Mit Hitlers Einzug in die Reichskanzlei 1933 beginnt die systematische Diskriminierung der Juden, der wenige Jahre später auch Wunstorfer zum Opfer fallen. Ab 1938 wird die jüdische Bevölkerung auch noch aus einem anderen Grund systematisch verfolgt: Die Vorbereitung auf den Krieg ist längst angelaufen, und die nun verschärfte Enteignung jüdischer Geschäftsleute soll bei der Finanzierung der Aufrüstung helfen. 1935 führt die Geheime Staatspolizei eine Kartei ein, in der deutsche Juden erfasst werden. Von Juni 1938 an müssen sich jüdische Gewerbebetriebe registrieren lassen und außen sichtbar markiert werden. In der Pogromnacht sind sie leicht erkennbar. Außerdem müssen Juden im selben Jahr ihr gesamtes Vermögen detailliert gegenüber den Finanzämtern offenlegen.

Emil Kraft: Ein Wunstorfer, gestorben in Auschwitz

Wie überall trifft der Terror von SA und NSDAP auch jüdische Menschen in Wunstorf. Darunter sind angesehene Bürger, geschätzte Mitglieder der Stadtgesellschaft. Sogar ein Wohltäter wie Emil Kraft – Holzhändler, Senator der Stadt, Stifter und großzügiger Finanzier sozialer Projekte – bleibt nicht verschont. Er wird boykottiert, angefeindet, verhaftet und gequält. Nach Jahren zwischen Flucht und Martyrium stirbt er 1943 in Auschwitz. Seine Frau Elfriede, die der Stadt einen Kindergarten eingerichtet hatte, nimmt sich das Leben.

Emil Kraft | Foto: Archiv Heiner Wittrock

Wie Kraft und seiner Frau ergeht es vielen Wunstorfern. Da sind zum Beispiel der sozialdemokratische Senator Paul Meier, der sich erschießt, der Maurer August Witte, der die Prügel während seiner Inhaftierung nicht überlebt, sein Berufskollege Wilhelm Kräft aus Mesmerode, der im „Arbeitserziehungslager“ in Lahde bei Petershagen stirbt. Kraft – ein Jude, die anderen Sozialdemokrat oder Kommunist. Auch Meier Spanier, 1864 in Wunstorf geboren, wird ein Opfer der Verfolgung. Der Chronist jüdischen Lebens in Wunstorf, renommierte Germanist, Pädagoge und Schulleiter nimmt sich 1942 in Berlin mit seiner Frau das Leben, um der Deportation zu entkommen.

Klaus Fesche hat ihre Schicksale in seinem detailreichen Buch nachgezeichnet. Ähnliches hat Heiner Wittrock mit „Das Leben der Juden in Wunstorf“ getan. Vor zwei Jahren ist Eberhard Kaus mit „Im Licht des Lebens“ hervorgetreten. Er stellt das komplett verloren gegangene jüdische Leben in Wunstorf dar und lässt den Leser eine Ahnung davon bekommen, wie stark verankert jüdischer Glaube und Alltag auch in der Stadt waren.

Kaus beschreibt unter anderem die einschneidenden Folgen der Pogromnacht auf die jüdische Gemeinschaft in der Stadt. Die Synagoge an der Küsterstraße ist nach den Übergriffen schwer beschädigt und nicht mehr so zu nutzen wie vorher. Kaus: „Der entweihte Betraum stand nun nicht mehr für Gottesdienste zur Verfügung, er diente in der Folge als Unterkunft der Familie Schloß und der Witwe Erna de Jonge. Ihr Mann, der Viehhändler Gottschall de Jonge, hatte sich, offenbar aus Verzweiflung über die abzusehende Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz, das Leben genommen und war im März 1938 als letztes Mitglied der Gemeinde auf dem Friedhof an der Nordrehr bestattet worden.“

Fenster an der ehemaligen Wunstorfer Synagoge. Es dient heute als Wohnhaus. | Foto: Archiv Heiner Wittrock

Acht Männer werden in der Pogromnacht oder kurz danach verhaftet. So auch Ferdinand Blank, viele Jahre lang der Rechnungsführer der Synagogengemeinde. Er wird ins Konzentrationslager Buchenwald transportiert und stirbt Ende November 1938 an den Folgen der Misshandlungen.

Thorarolle vor der Stadtkirche verbrannt

Heiner Wittrock hat seit Jahren mit Engagement zur Geschichte jüdischer Menschen in der Stadt und zum Fliegerhorst Fakten gesammelt und publiziert. Seine akribischen Nachforschungen belegen: Die Kleinstadt Wunstorf kann nicht für sich in Anspruch nehmen, sich zurückgehalten zu haben, als der Terror der NSDAP in der Pogromnacht wütete. In „Das Leben der Juden in Wunstorf“ schildert er seitenweise die Realität dieser Stunden und der Tage danach. Die Auepost dokumentiert Wittrocks Darstellung auszugsweise im Original:

In Wunstorf begann die Umsetzung der erhaltenen Anweisungen am Morgen des 10. November zwischen 3.00 und 4.00 Uhr. Irmgard Mohr, die damals bei Blank in der Langen Straße 30 wohnte, wurde zu dieser Zeit vom Stiefelgeräusch der marschierenden Wunstorfer SA wach und schaute aus dem Fenster. Sie beobachtete, wie die SA mit Pinsel und Farbe unterwegs war und die jüdischen Geschäfte mit einem Kreuz deutlich markierte. Währenddessen drangen Bordenauer SA-Männer von der Rückseite in die Synagoge ein, indem sie die dortige Tür aufbrachen.

Sofort wurde im östlichen Teil der Synagoge Feuer gelegt. Als jedoch die auswärtigen SA-Männer kurz darauf von eintreffender örtlicher SA erfuhren, dass im Obergeschoss der Synagoge die christliche Hausmeisterfamilie Heußmann wohnte, konnte das Feuer gerade noch rechtzeitig gelöscht werden. Danach wurde die SA ihrem Ruf als Schlägertruppe in jeder Hinsicht gerecht: Sie demolierte das Innere der Synagoge, indem sie sich an die Kronleuchter hing und sie niederriss. Weiterhin wurde der Thoraschrein und sämtliches Inventar zerschlagen. Schließlich baute sie noch aus Ofen, Ofenrohr und einem geeigneten Umhang einen Spottrabbiner …

Durch den Lärm der SA wurde der zur Arbeit gehende Lokomotivführer Bergmann angelockt. Er hielt es für originell, sich mit dem Heiligtum der Juden, der Thorarolle, fotografieren zu lassen. Diese wurde danach mit anderen Büchern und Schriften zur Verbrennung vor die Stadtkirche gebracht. Zuvor verhafteten SA-Männer die im ersten Obergeschoss der Synagoge wohnende Familie Schloß und führte sie ab. Versehentlich hatten die ortsfremden SA-Leute auch die dunkelhaarige Gattin des Hausmeisters Heußmann verhaftet. Von Wunstorfern auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht, ließ die SA Frau Heußmann kurz vor dem Rathaus wieder frei. Familie Schloß aber wurde wie alle anderen jüdischen Einwohner im Rathauskeller (heute Wunstorfer Info) eingesperrt.

Inzwischen hatten nachfolgende SA-Männer alle mit einem Kreuz markierten Scheiben eingeschlagen. Bei Blanks wurden zwei im Eingangsbereich stehende wertvolle chinesische Vasen zerschlagen und die Scheiben der Kassettentür im Flur zerstört. Anschließend wurden Ferdinand und Ottilie Blank, noch im Schlafzeug, verhaftet… Bei Mendel & Schloß hatten die Nationalsozialisten die Rollläden hochgeschoben, die Schaufensterscheiben zertrümmert und die Dekoration zerstört. Über dem Eingang befestigten sie ein Schild mit der Aufschrift: „Rache für den Mord an vom Rath“, auf einem anderen Schild stand: „Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind“. Auf dem Rollladen war die Aufforderung zu lesen: „Geh nach Amerika“.

Bis morgens um 7 Uhr waren auch die restlichen jüdischen Geschäfte demoliert. Gegen 7.45 Uhr beobachteten Kinder auf dem Weg zur Schule, wie ein Goliath-Fahrzeug mit acht SA-Männern vor dem Geschäft von Mendel & Schloß hielt. Die Nationalsozialisten sprangen vom Auto hinunter und gingen hastig in die Geschäftsräume. Kurze Zeit später zerrten sie den 71-jährigen Albert Mendel aus dem Haus und luden ihn auf den Goliath. Mendel wehrte sich heftig gegen die Braunhemden, die ihn traten und mit Fäusten schlugen.

Vor dem Geschäft lagen allerlei Textilien, Schaufensterpuppen, Einrichtungsgegenstände und ein Gebetsmantel wild durcheinander. Die Thorarollen hingen von den Fenstern herunter und auf einem auf dem Fußweg stehenden Geschäftstresen stand der kleine SA-Mann Blanke, hielt einen Thoraleser (fingerartiger Metallgegenstand) in der Hand und schrie: „Hier ist der Judenfinger …, diese Schweine!“

Vor seiner Verhaftung wurde Hugo Bensew von den SA-Leuten gepeinigt. Sie steckten den kleinen Mann kopfüber in eine leere Regentonne und ließen diese unkontrolliert die abschüssige Hofauffahrt hinunterrollen. Dann zerrten sie den völlig benommenen Bensew aus der Tonne und führten ihn ab. Schulkinder beobachteten damals, wie Nationalsozialisten jüdische Einwohner zum Rathauskeller brachten und Schüler aufforderten „das Judenpack anzuspucken“. Während alle jüdischen Einwohner mit Ausnahme der wenigen Kinder nun im Rathauskeller eingesperrt wurden, verwüstete die SA den jüdischen Friedhof am Nordrehr. Sie beschmierte die Grabsteine und warf 35 Grabsteine und die Friedhofsmauer um.

Wunstorfer jüdischer Friedhof am Nordrehr | Foto: Archiv Heiner Wittrock

Die Liste der Opfer des Nationalsozialismus ist lang, und sie reicht über jüdische Mitbürger hinaus bis zu Roma und Sinti, über Kommunisten und Sozialdemokraten bis zu Menschen, die Widerstand geleistet haben oder krank waren. Mit der Verlegung der ersten Stolpersteine in der Innenstadt und der Stolperschwellen auf dem Gelände des Klinikums im nächsten Jahr soll die Erinnerung an sie wachgehalten werden.

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