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Passgenau und viel zu spät: Die neue Auebrücke steht

03.10.2022 • Redaktion • Aufrufe: 2039

Eine komplette Brücke will mit dem Zug zur Westaue: Das brachte die Bahnstrecke an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Doch die Monteure, Ingenieure und Kranführer behielten die Nerven. Eine (Foto-)Reportage über ein einzigartiges Technik-Schauspiel in der Auestadt.

03.10.2022
Redaktion
Aufrufe: 2039

Wunstorf (as/nd/dd/ds/ms). Das Interesse war groß, und die Geduld der Zuschauer wurde auf eine harte Probe gestellt: Mit stundenlanger Verzögerung haben am 19. September Spezialisten mehrerer Unternehmen die neue Brücke über die Westaue nahe der IGS eingebaut. So wie sich jetzt Transport und Montage verzögerten, war das gesamte Projekt von Anfang an in Verzug geraten. Letztlich gelang der Einbau des 650.000 Euro teuren „grünen Wunders“ mit viel Geschick und Improvisation.

Der Zeitplan für die Montage war eng getaktet und ambitioniert: Um 8 Uhr sollten am Bahnübergang Hohes Holz beim Obi-Baumarkt ein überlanger Tieflader mit dem Brückenteil und ein selbstfahrender Gleisbaukran aus Süddeutschland zusammentreffen. Der Sattelschlepper war frühmorgens aus Elsfleth eingetroffen und zog die ersten Schaulustigen an. Aber „Thor“ ließ lange auf sich warten. Gemeint ist nicht der nordische Donnergott, sondern der Krangigant der Leipziger Kirov-Werke, mit dem das Team der bundesweit aktiven Firma Hering die Brücke vom Tieflader auf einen Flachwagen der Bahn umheben sollte. So weit der angekündigte Plan.

Auch Donnergötter haben Verspätung

„Thor“ traf mit zweistündiger Verspätung ein – zu einer Zeit, als die Endmontage an der Aue beginnen sollte. Es begann die erste Phase der Improvisation. Der Flachwagen kam nicht zum Einsatz. Eine Erklärung konnte oder wollte niemand liefern. Ehemalige Brückenbau- und Eisenbahnexperten aus Wunstorf, die sich das Schauspiel aus privatem Interesse ansahen, hatten Vermutungen und Annahmen parat, Gewissheit gab es nicht. Eine der Kurven der Kleinbahnstrecke zur Aue könne zu eng sein für den Flachwagen, hieß es.

„Thor“ nimmt sich die nötige Zeit
Gedrehter Kranwagen am Bahnübergang Hohes Holz
Die Brücke hängt am Kranausleger …
Fast lautlos und in Schrittgeschwindigkeit wird die Brücke transportiert
… und macht sich sachte auf den Weg zur Aue …
… und überquert die „Sölterkreuzung“
„Mama, da fährt eine Brücke über die Straße!“
So etwas sieht man nur einmal in 100 Jahren: Weiter geht es auf der Strecke …

Die Monteure begannen mit den Vorbereitungen, brachten eine Traverse an der Brücke an, um sie gleich wieder zu entfernen. Zur Verwunderung der Zuschauer setzte sich „Thor“ in Richtung Bokeloh in Bewegung, um auf der anderen Seite der Straße den Kran um 180 Grad zu drehen und zurückzufahren. „Aha“, kommentierte einer der Zaungäste: „Sie wollen die Brücke vor sich haben.“ Folgerichtig befestigten die Teams von Herding und von der Montage-Firma Busch eine Schmalseite der Brücke am Kran, nachdem das 20-Tonnen-Stück wie in Zeitlupe vom Tieflader bugsiert worden war.

Zeit zum Improvisieren

Fast zwei Stunden hinter dem Zeitplan startete das Gefährt schließlich mit Tempo 5 Stundenkilometer in Richtung Zielpunkt. Ein Dutzend Monteure begleitete den Transport zu Fuß, aus sicherer Entfernung von vielen Schaulustigen beobachtet. Die Fahrt zur Aue verlief reibungslos, auch die Überquerung der Sölterkreuzung, wo Zuschauer und Bauexperten ungeduldig gewartet hatten. Polizeibeamte waren während des gesamten Einsatzes nicht zu sehen, auch Rettungskräfte hielten sich nicht bereit.

An der Westaue schien sich für die Schaulustigen ein Problem aufzutun. Der Montageleiter wollte das nicht bestätigen: Unerwartetes und Improvisation gebe es auf jeder Baustelle. So begann erneut eine lange Vorbereitungsphase, in der die Bautrupps die Situation genau in Augenschein nahmen und lange berieten. Es wurde viel telefoniert und Material herbeigeschafft. Offensichtlich war es schwierig, eine sichere Standfläche für den hydraulischen Stempel des Gleiskrans zu finden. Das Gerät wiegt allein 120 Tonnen, und das entspricht exakt der Tragkraft der Kleinbahnbrücke über die Aue. Als das schließlich gelungen war, begann der Kranführer mit dem Umheben der Brücke. Zentimeterweise hob er die Konstruktion an, schwenkte sie vom Kleinbahngleis weg in Richtung Widerlager. Das glückte ohne Probleme und mit großer Präzision. Auch eine Korrektur um zwei Zentimeter gelang.

Millimeterarbeit
Die Brücke ist von den renommierten Konstrukteuren des Luther Ingenieurbüros Meyer+Schubart im Auftrag der Stadt entworfen worden. Das Unternehmen besteht seit 53 Jahren und ist auf mittlere und große Brückenbauwerke spezialisiert. In ganz Deutschland und im angrenzenden Ausland ist es an vielen Projekten beteiligt gewesen. Den Entwurf umgesetzt hat die Elsflether Stahlbau-Firma Joachim Tiesler. Die Montage der 32,40 Meter langen Brücke übernahm das Team von Rohr- und Metallbau Busch aus Osterwald. Mitarbeiter aller dieser Unternehmen haben den Einbau an der Westaue überwacht.

Sie schwingt, aber ist nun breiter

Die Luther Ingenieure haben die Brücke mit einer Breite von 2,50 Metern als Fachwerk angelegt. So wird die Stabilität der freitragenden Stahlkonstruktion erhöht, Schwingungen beim Überqueren werden minimiert. Fußgänger und Radfahrer können sich nun begegnen, ohne sich zu behindern. Das war bei der alten Holzbrücke nicht ohne weiteres möglich. Den Gegenverkehr zu ermöglichen und die Tragfähigkeit der viel genutzten Verbindung zu erhöhen waren wesentliche Gründe für den Neubau. Auch die Sicherheit der Passanten war ein wichtiger Aspekt: Ein spezieller Belag aus Glasfaserkunststoff und winzigen Steinen bietet ab sofort guten „Grip“.

Die letzte Meile zur Aue
Angekommen

Das alles hat seinen Preis: 647.680 Euro muss die Stadt ausgeben. Hinzu kommen die Kosten für die beiden Widerlager an den Ufern und die Anschlüsse an die Wege sowie nochmal ein fünfstelliger Betrag für die provisorische Brücke, die das THW im August 2021 geschlagen hat. Ausgelöst wurde der Neubau von der „Streckenertüchtigung“ der Kleinbahnstrecke vom Bahnhof Wunstorf zum Schacht Sigmundshall in Bokeloh. Die Kali und Salz AG lässt dort vermutlich bis 2043 Salzlauge aus einem Bergwerk in Hessen transportieren, um die aufgegebene Wunstorfer Grube zu füllen und damit zu stabilisieren. Dabei werden Züge eingesetzt, die schwerer sind als die früher verwendeten. Außerdem hat sich die Zahl der Zugfahrten stark erhöht.

Der Ausbau der Bahnlinie war Gelegenheit für die Stadt, die alte Holzbrücke zu ersetzen. Die Bauarbeiten sollten eigentlich bis zum Sommer vergangenen Jahres abgeschlossen sein. Die Statik der Kleinbahnbrücke lässt es nicht zu, die neue, breitere und schwerere Stahlkonstruktion wie vorher auf ein gemeinsames Trägersystem zu stellen. Die erste Ausschreibung für die freitragende Stahlbrücke überstieg die veranschlagten Baukosten deutlich. Deshalb entschied sich die Stadtverwaltung, erneut Angebote einzuholen. Ergebnis: weitere Preissteigerungen. Die Aufträge für die jetzt eingebaute Konstruktion wurden schließlich im April vergeben.

Die Brücke „schwebt“ heran
Einweisung
Einpassen
Aufsetzen
Der Schienenkran wurde zum Brückentransporter
Fertig – die Brücke liegt parallel zur Bahnbrücke

Das „grüne Wunder“ eingeweiht

Die rund 33 Meter lange Brücke ist nicht mehr aus Holz, sondern Stahl – und hat damit auch eine neue Farbe. Zur offiziellen Einweihung vier Tage später nahm Bürgermeister Carsten Piellusch auf die Farbgebung Bezug und empfahl damit gleich einen neuen Spitznamen für das Bauwerk: Dresden habe als Brücke ein „blaues Wunder“, Wunstorf nun ein „grünes Wunder“. Piellusch dankte dem THW, den Baufirmen sowie K+S und wünschte Ortsbürgermeister Silbermann, der seit Kurzem ebenfalls mit neuem E-Bike in der Stadt unterwegs ist, stellvertretend für alle Wunstorfer, dass die Verbindung nun wieder gut benutzt werden könnte. Silbermann betonte noch einmal die Notwendigkeit der Brücke an dieser Stelle – der Weg über sie hinweg sei stark frequentiert, und die weiter entfernten Brücken eben nicht ausreichend.

„Danke für die Brücke“

Glückliche erste offizielle Passantin mit Kinderwagen

Währenddessen querten bereits viele Wunstorfer die wiederhergestellte Wegeverbindung, Fußgänger und Radfahrer gleichermaßen. Fast alle fragten im Vorbeigehen angesichts des gerade zerschnittenen Bandes: „Bin ich jetzt der Erste?“ Eine Mutter mit Zwillingskinderwagen wirkte dagegen geradezu erleichtert: „Danke für die Brücke!“

Bürgermeister und Ortsbürgermeister schneiden im Beisein von THW-Ortsbeauftragtem Udo Wunnenberg das symbolische Eröffnungsband durch und geben die Brücke offiziell frei
Die Behelfsbrücke in der Nähe wird vom THW abgebaut

Die Behelfsbrücke, die das THW für die vergangenen Monate wenige Meter neben der nun wiederaufgebauten Verbindung installiert hatte, war bei Rad- und Zwillingskinderwagenfahrern weniger beliebt, wegen des starken Mitschwankens bei Schülern auf ihrem Schulweg jedoch umso beliebter. Sie wurde noch am selben Nachmittag abgebaut.

Ganz ohne Schwingungen müssen die Kinder jedoch auch bei der neuen Stahlbrücke nicht auskommen: Durch das Fehlen von Pfeilern wie früher schwingt auch sie beim Darübergehen leicht, aber deutlich spürbar mit. Dennoch ist sie stabiler als die frühere Holzkonstruktion auf Stahlträgern: Sie soll die nächsten 100 Jahre halten und auch dann noch stehen, wenn die benachbarte Bahnbrücke mit den Gleisen nach Bokeloh womöglich längst verschwunden ist. Es wäre für manchen das nächste Wunder.

von Achim Süß, Nicola Deppe, Dirk Dombrowski, Daniel Schneider und Malte Süß

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