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Wunstorf in Corona- und Ukrainekrise: Von Chefsachen und Netzwerken

23.03.2022 • Achim Süß • Aufrufe: 1926

Wäre das Rathaus ein Schlachtschiff, wären jetzt alle auf Gefechtsstation. Mag sein, dass das Marine-Vokabular in diesen Wochen nicht erste Wahl ist. Aber für die Schlagkraft, mit der die Stadtverwaltung derzeit agiert, ist der Begriff genau der richtige: 10 bis 15 Hilfesuchende kommen schon bald regelmäßig pro Woche aus der Ukraine auf die Stadt zu, und eine Besserung ist nicht in Sicht – gleichzeitig erlebt Wunstorf ein Allzeithoch bei den Corona-Fällen, ebenfalls ohne Aussicht auf Besserung. Das Rathaus funktioniert, obwohl der Chef nicht im Dienst und seine Vertreterin gerade mal fünf Wochen an Deck ist. Mehr noch: Groß-Projekte werden betreut und neue vorangetrieben. Ein Blick hinter die Kulissen.

23.03.2022
Achim Süß
Aufrufe: 1926

Der Verwaltungsausschuss („VA“), das wichtigste Gremium neben dem Rat der Stadt, tagt hinter verschlossenen Türen. Ohne den vermeintlichen Druck der Öffentlichkeit werden Entscheidungen des Rates vorbereitet, Verträge abgesegnet und Personalangelegenheiten entschieden. Die Bürger draußen im Lande, wie es einst Kanzler Helmut Kohl gern formulierte, erfahren die Details nicht, wohl aber die Auswirkungen. Das ist überall so geregelt in den Kommunen.

In Wunstorf aber ist es seit Jahrzehnten guter Brauch, dass der Bürgermeister am Tag nach der Sitzung des VA die Lokalpresse informiert – über das, was er für richtig hält, und das, was er sagen darf oder will. Die Wunstorfer Journalisten mussten sich die inzwischen unumstrittene Praxis in den 1980er Jahren mühsam erkämpfen. Das war in Zeiten, als noch ein Stadtdirektor, ein Wahlbeamter, das Sagen im Rathaus hatte. Die Stadtdirektoren und Bürgermeister der Vergangenheit sind sehr unterschiedlich mit dem Instrument umgegangen. Der frühere Stadtdirektor Günter Kramer sagte gern: „Ich sage alles. Sie schreiben nix!“ Langzeit-Bürgermeister Rolf-Axel Eberhardt setzte die Termine mit den wechselnden Berichterstattern taktisch ein. Über die Auskunftspflicht hinaus, zog er bei solchen Gelegenheiten alle Register – mal das Florett, mal den schweren Säbel, hin und wieder auch das Fahrtenmesser.

Sein Nachfolger Carsten Piellusch ist zurückhaltend. Hoch professionell wie Eberhardt, reduziert er die Bekanntgaben auf das Minimum – mit der Souveränität des erfahrenen Verwaltungsmannes und der Selbstsicherheit des Prädikatsjuristen. Wie sein Vorgänger ist er detailsicher. Mancher nennt ihn einen Aktenfresser. Das beschreibt ihn kaum zutreffend, denn Piellusch hat Visionen. Seine Vorstellungen vom modernen Wunstorf, die er im Wahlkampf immer wiederholt hat, bleiben nicht Erzählung. Sein häufiges Zögern mit Unentschlossenheit zu verwechseln, wäre ein Fehler. Er hat einen Plan von den Dingen. Und den verfolgt er beharrlich seit der Stunde, in der er seinen Hut in den Ring geworfen hat.

Seine Vorstellungen vom modernen Wunstorf bleiben nicht Erzählung

Mit ungewohnter Geschwindigkeit hakt die Rathaus-Besatzung Punkt für Punkt auf Pielluschs Prioritätenliste ab. Seine Genossinnen und Genossen, die nicht ihn für den Bürgermeisterstuhl wollten, sondern einen anderen, bemühen sich, Schritt zu halten. Die unterlegene CDU, die sich nach der Wahl erst in der Opposition sah und plötzlich zum Gruppenpartner der SPD avancierte, zollt dem Bürgermeister Respekt und hat noch Mühe, den Menschen zu zeigen, dass sie auch noch da ist. Manchmal scheint es so, als stehe sie staunend am Rand des Weges, den Piellusch in Windeseile beschreitet.

Mit welcher Effektivität der Rathaus-Chef zu Werk geht, zeigt sich in diesen Tagen: Vom heimischen Schreibtisch, mit Handy und PC, am Telefon und in der Video-Schaltung, steuert er den Apparat in außergewöhnlicher Zeit. Als wäre die Neuorientierung nach 22 Jahren Eberhardt nicht Umbruch genug, sind plötzlich Aufgaben zu bewältigen, die sich Romanautoren ausdenken können: In Europa ist ein Landkrieg ausgebrochen, und wir stehen blank da, wie der Heeresinspekteur sagt. Aber Tausende suchen Zuflucht in Deutschland. Im 1.150 Jahre alten Wunstorf, das eigentlich feiern wollte, werden Hunderte erwartet. Sie müssen irgendwo wohnen und betreut werden, jedenfalls vorübergehend.

Aufgaben zu bewältigen, die sich Romanautoren ausdenken können

Im Rathaus ist das Problem seit Wochen Chefsache. Jeden Montag geht es im Verwaltungsvorstand um „die Ukraine“, in allen Abteilungen gibt es mindestens eine oder einen, der zu den anderen Fachdiensten Kontakt hält. Das Thema bestimmt den Alltag. Im Wunstorfer Rathaus wie an vielen anderen Stellen. „Wir sind ganz heftig am Arbeiten“, sagt der Bürgermeister am Dienstag: „Wir brauchen Wohnraum.“ Wie viele es wirklich sind, weiß noch niemand. Aber 106 Menschen aus der Ukraine sind in Wunstorf registriert, die Erfassung läuft weiter. Die Unterkunft am Luther Weg im früheren Gebäude von Iglo und Vion ist ein Pluspunkt für die Stadt, aber „weitgehend voll“, so Piellusch. Es kommen Hotelzimmer hinzu und Privatwohnungen.

Zwei Teams sind seit Tagen mit der Sichtung und Prüfung der Angebote beschäftigt. In drei Kategorien werden die Offerten unterteilt: sofort nutzbar, nach „Renovierung“ möglich, gar nicht geeignet. Für die Flüchtlingsbetreuerinnen und -betreuer, denen es ohnehin nicht an Arbeit mangelt, bedeutet die Zuspitzung der Lage neue Herausforderungen. Unterstützung kommt vom Ehrenamtlichen-Kreis der evangelischen Kirche, vom Arbeitskreis Asyl und vielen Freiwilligen.

So haben die Bokeloher eine Betreuung geradezu aus dem Boden gestampft. 21 Frauen und Kinder – in Hannover angekommen – mussten an einem Donnerstagabend plötzlich untergebracht werden. Quartiere waren im Hotel Ceteno von Carsten Müller im früheren „Mittelpunkt“ trotz der späten Stunde schnell gefunden, die Familie von Giuseppe Pagano Scorcio aus dem „Averna“ spendete Pizza für alle. Die Dorfgemeinschaft mit dem DRK und dem Dorfladen-Team hat inzwischen ein richtiges Netz geknüpft, die Kirchengemeinde und die Schule sind einbezogen.

Zwei bis drei Wochen, so der Bürgermeister zur Auepost, „kommen wir wohl noch über die Runden“ bei der Unterbringung. Aber selbst wenn der Krieg enden sollte, so Piellusch: „Der Zustrom bleibt“ – Städte und Existenzgrundlagen sind zerstört. So hat die „Unterbringung“ Vorrang. Wer letztlich die Kosten trägt, ist unklar. Die Kommunen erhalten Pauschalen vom Land, verhandeln aber über grundsätzliche Vereinbarungen und Dauerregeln.

Piellusch hat in Abstimmung mit anderen Hauptverwaltungsbeamten Regionspräsident Steffen Krach gebeten, sich mit allen Mitteln für eine gesteuerte Zuweisung von Geflüchteten einzusetzen: Die Region ist Drehkreuz bei Ankunft und Weiterleitung, hat aber inzwischen die meisten Familien aufgenommen. Piellusch drängt darauf, dass der Verteilungsschlüssel die Lage in Hannover und Umgebung berücksichtigt.

„Stündlich“ wartet er darauf, dass der Kultusminister bei der Betreuung der ukrainischen Kinder in den Tagesstätten eine Abweichung von den vorgeschriebenen Standards zulässt. Nur so kann seiner Ansicht nach sichergestellt werden, dass die Aufgaben bewältigt werden können. Minister Grant Hendrik Tonne habe positiv reagiert, was den Schulunterricht betreffe. Ukrainische Frauen dürfen als Lehrerinnen arbeiten. Für die Kindertagesstätten stehe die Entscheidung aus. Nicht so zügig, wie Piellusch sich das wünscht, laufen die Kontrollen im ehemaligen Schulzentrum Steinhude. Der Komplex steht leer und soll zum Teil abgerissen werden. In einem der zuletzt errichteten Gebäudeteile will die Stadtverwaltung in zehn Klassenräumen Menschen aus der Ukraine unterbringen. Allerdings sind sämtliche Versorgungsleitungen längst gekappt, und die Fachleute aus Rathaus und Versorgungsunternehmen sind sich noch nicht sicher, ob und wann ein Flüchtlingsheim dort möglich wäre. Elektrische Leitungen sind zu prüfen und eventuell zu erneuern, Spülungen der Wasserleitungen erfordern ihre Zeit, und Wasserproben liegen noch nicht vor. Das niemals genutzte Container-Dorf in Großenheidorn steht kurz vor der Demontage. Die Stadt Hemmingen hat die Wohnanlage gekauft. Ob ein solches Objekt erneut entsteht, ist fraglich. Piellusch betont, es bleibe bei dezentraler Unterbringung.

Von Schnittmengen spricht der Bürgermeister, wenn er auf die andere Chef-Sache zu sprechen kommt, die in der öffentlichen Wahrnehmung fast in den Hintergrund gedrängt worden ist: die Pandemie. Mit echter Sorge schildert er die aktuelle Lage in der Stadt – mit mehr als 2.700 Fällen ist ein „Allzeithoch in Wunstorf“ erreicht, ein Rekordwert auch in der Region. Dass gerade jetzt Restriktionen aufgehoben werden, findet Pielluschs Beifall nicht. Daran lässt er keinen Zweifel, hebt aber sofort hervor, dass die Anstrengungen der Impfteams fortgesetzt werden. Auch für die Menschen aus der Ukraine sei gesorgt: Dr. Sami Mohtadi, Allgemeinmediziner und Arzt des Johanniter-Ortsverbandes, seit September auch für die SPD im Rat der Stadt, übernehme die Besuche in den Quartieren.

Absprachen wie diese sind typisch für Piellusch. Er ist das, was man einen Netzwerker nennt, und ein wesentlicher Bestandteil seines Flechtwerks sind die Johanniter – geführt von Thomas Silbermann, Ortsbürgermeister, Ratsherr, Genosse. Piellusch bringt im Wahlkampf ein Familienzentrum mit Kita, Beratungs- und Betreuungsangeboten und vor allem „niedrigschwellig“ ins Gespräch. Kaum ist die Wahl entschieden, zeigt sich, dass die Dinge weit gediehen sind: Die Johanniter haben die ehemalige Villa des Heilpraktikers Willi Rehberg neben ihrer Zentrale am Düendorfer Weg gekauft – seit ein paar Tagen ist sie nur noch ein großer Haufen Schutt. Mit der Übernahme der von der Tegeler-Gruppe nicht mehr genutzten Remise runden sie dort ihr Areal ab. Vorerst krönender Abschluss soll das Familienzentrum sein.

Die Tagesordnungen von Ausschüssen und Rat sind seit Wochen voll von Grundsatzentscheidungen und Weichenstellungen: Innenstadt, Bürgerpark, Hölty-Gymnasium, Vion-Brache, Fußgängerzone Steinhude, Internet-Marktplatz, Citymanagement – fast scheint es, als müsse alles auf einmal angepackt werden.

„Das ist gut. Das brauchen wir.“

So hatte auch an diesem Montag der VA ein strammes Programm: Nach Flüchtlingen und Corona geht es um eine Förderung des Stadtjugendrings, vier Einstellungen (Piellusch: „Das ist gut. Das brauchen wir.“), weitere Aufträge für die Erweiterung der Stadtschule und zur Sicherstellung der Barrierefreiheit der Gesamtschule. An der Emanuel-Grund-Straße nahe des Hanisch-Kreisels wird die Skateranlage ergänzt. Nach langer Beratung hat der VA 150.000 Euro bewilligt. Was vor allem Anfängern Spaß bringen soll, ist im Detail mit dem Jugendparlament und dem Rollsportverein abgestimmt worden.

Mit dem Ausbau der sogenannten Reiterkuhle zum Mountainbike-Gelände sollen die Angebote für Jugendliche weiter verbessert werden. Piellusch sagt, das sei ihm besonders wichtig. Schon im Wahlkampf war das eines seiner Themen. Er lobt die Rolle des Jugendparlaments und sagt zu, dessen Wünsche zu berücksichtigen. Nach Skater- und Mountainbike-Geländen geht es ihm im nächsten Schritt um Treffpunkte für Jugendliche – auch und vor allem in der Innenstadt.

Stichwort City: Piellusch berichtet, der Verwaltungsausschuss habe „drei Bausteinen“ zugestimmt, die vor der Sommerpause Klarheit schaffen sollen, wie das Parken geregelt werden soll. Nach einer Bestandsaufnahme sollen die Daten der Parkautomaten ausgewertet werden, und den Abschluss bildet eine Online-Befragung der Bürger.

Was der Bürgermeister nicht zur Kenntnis gibt, ist der Verlauf einer Diskussion über den Stand der Dinge rund um das frühere Vion-Gelände. Es knirscht offenbar zwischen den Verhandlungsführern der Stadt und dem Investor. Der mächtige Lärmschutzwall mit zusätzlicher Wand auf der Krone ist dem Chef der „Neue Mitte“-Baugesellschaft zu aufwändig, die Fläche des projektierten Wohnraums zu klein. Sprecher von SPD und CDU, so erfuhr die Auepost, haben dem Baureferat den Rücken gestärkt. Der Wettbewerbsbeitrag der Leipziger Octogon solle verwirklicht werden. Die Verwaltung soll außerdem schnellstens mit Hilfe von Gutachtern ermitteln, was es kosten würde, wenn die Stadt von ihrem Vorkaufsrecht für das sechs Hektar große Gelände Gebrauch macht.

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